Rekordverlust bei Bundestagswahl:"Schwärzeste Stunde der FDP"

Bundestagswahl 2013

FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle und Liberalen-Chef Philipp Rösler: Ihnen und ihrer Partei steht ein langer, nervenaufreibender Wahlabend bevor

(Foto: dpa)

Parteichef Rösler wählt drastische Worte, die Liberalen sind unter Schock: Die Partei landet knapp um die Fünf-Prozent-Hürde, erstmals seit 1949 steht ihr Einzug in den Bundestag auf der Kippe. Die Chronik eines Desasters - wie es Westerwelle, Rösler, Brüderle und Co. geschafft haben, zwei Drittel ihrer Wähler zu vergraulen.

Eine Analyse von Matthias Kolb

"Wer Merkel haben will, wählt FDP", rief Spitzenmann Rainer Brüderle in dieser Woche in jedes Mikrofon. Offensiv warben die Liberalen um Zweitstimmen von Unionsanhängern. Sie versuchten mit dem Argument zu punkten, nur so lasse sich die schwarz-gelbe Koalition fortsetzen.

Doch die Wähler entschieden sich anders. Wer weiter Angela Merkel im Kanzleramt sehen wollte, tat das Logischste und machte sein Kreuz bei CDU oder CSU. Mehr als zwei Millionen Bürger, die 2009 liberal wählten, stimmten laut ARD nun für die Union. Folgerichtig liegen CDU und CSU in den ersten Hochrechnungen jenseits der 40-Prozent-Marke, während die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde taumelt. Erstmals seit 1949 ist der Einzug in den Bundestag ernstlich gefährdet.

Auf viele Anhänger des bürgerlichen Lagers wirkte die Zweitstimmenkampagne der FDP als Akt der Verzweiflung, als kaum vorstellbare Selbsterniedrigung einer Regierungspartei, die nicht auf ihr eigenes Profil, ihre Köpfe und ihre eigene Bilanz vertraute, sondern sich an die Popularität der Kanzlerin kettete.

Dieser Totalabsturz einer Partei ist einmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Noch vor vier Jahren, am 27. September 2009, präsentierte sich der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle strahlend den jubelnden Anhängern. 14,6 Prozent der Zweitstimmen hatten die Liberalen bei der Bundestagswahl geholt und konnten in den folgenden Wochen - und in den Koalitionsverhandlungen - vor Kraft kaum laufen.

So herausragend das Zweitstimmenergebnis der FDP war, so desaströs war das Erscheinungsbild der Liberalen in den ersten Monaten der Regierung. Die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers wurde als schamlose Klientelpolitik wahrgenommen, die Partner schimpften über sich als "Gurkentruppe" und "Wildsäue". Guido Westerwelle gelang als erstem Außenminister das Kunststück, nicht zu den beliebtesten Politikern der Republik zu gehören. In Zeiten der Euro-Schuldenkrise gab die Kanzlerin die Chefdiplomatin und gönnte ihrem Vize keinen Stich.

Frustrierte FDP-Wähler wandern zur Union - und zur AfD

Als Westerwelle schließlich im Mai 2011 als Parteichef und Vizekanzler abdanken musste und Philipp Rösler übernahm, wurde es kaum besser für die Liberalen. Dass sich Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger beim NSA-Skandal als Aufklärerin und oberste Datenschützerin zeigte, half ihrer Partei nicht mal in der bayerischen Heimat der Ministerin. Mit 3,3 Prozent flog die FDP eine Woche vor der Bundestagswahl aus dem Landtag in München.

Es folgte die unselige Zweitstimmenkampagne, die offenbar ebenso wenig half wie die Versuche von Westerwelle, Brüderle und Rösler, in schrillen Tönen vor einer drohenden rot-rot-grünen Koalition zu warnen.

Eine Erkenntnis der Wahlforscher dürfte die FDP jetzt besonders plagen: Laut ARD wanderten 440.000 ehemalige Liberale zu den Eurokritikern von der Alternative für Deutschland. So wird klar: Im bürgerlichen Lager ist eine Kraft rechts von der Mitte entstanden - die für viele attraktiver als die klassischen Bürgerlichen war.

Ebenfalls aufschlussreich: Besonders deutlich verloren die Liberalen in ihrem Stammland Baden-Württemberg, wo sie vor vier Jahren auf 18,8 Prozent der Zweitstimmen kamen. Vier Jahre später steigert sich die CDU im Südwesten um 12,6 Prozent - diese Unterstützung kam fast ausschließlich von enttäuschten FDP-Fans.

570.000 FDP-Wähler von 2009 entschieden sich dieses Jahr für die SPD. Und 400.000 Deutsche, die vor vier Jahren für die Liberalen stimmten, blieben an diesem Wahltag zu Hause - hier war der Frust wohl besonders groß.

"Kompetenzfreie Zone"

Je länger der Wahlabend dauert, umso mehr Details ermitteln die Demoskopen. Laut Infratest Dimap weisen nur sechs Prozent der Befragten der FDP besondere Fähigkeiten in der Steuerpolitik zu; lediglich vier Prozent halten sie für sehr kompetent in der Gesundheitspolitik. Geht es um Wirtschaft, den eigentlichen Markenkern der Liberalen, weisen ihr nur drei Prozent Expertise zu. ARD-Mann Jörg Schönenborn bilanziert: Das sei schon fast "kompetenzfreie Zone".

Viel höher sind die Werte bei folgenden Sätzen: 83 Prozent der Befragten bejahen die Einschätzung "Die FDP hat viel versprochen und fast nichts davon umsetzen können". 79 Prozent sind überzeugt, dass sich die Liberalen zu stark um Klientelpolitik gekümmert haben - Stichwort Hoteliersteuer.

Beginn der Personaldebatte

In den kommenden Stunden und Tagen wartet eine harte Personaldebatte auf die Liberalen. Dass ein sichtlich schockierter Rainer Brüderle und Parteichef Philipp Rösler zunächst "die Verantwortung übernehmen", wird nicht reichen. Christian Lindner, Ex-Generalsekretär im Bund und nun FDP-Chef in Nordrhein-Westfalen, spricht von der "bittersten Stunde für die Liberalen seit vielen Jahrzehnten". Im WDR sagte der 34-Jährige: "Im Grunde muss die Idee politisch organisierter Liberalismus in Deutschland jetzt neu gedacht werden. Wir müssen uns als Liberale jetzt Fragen stellen."

Lasse Becker wird deutlicher: Der Chef der Jungliberalen fordert einen "Neuanfang" und schimpft über die "Bettelkampagne". Sein Fazit: "Man wählt niemanden, der sich selbst zum Wurm macht." Der eurokritische FDP-Finanzexperte Frank Schäffler forderte per Zeitungsinterview, die FDP müsse sich jetzt personell und inhaltlich neu ausrichten. "Vier Jahre APO (Außerparlamentarische Opposition) killt eine liberale Partei", sagt ein Mitglied der FDP-Spitze orakelnd zur Nachrichtenagentur Reuters.

Und die Wahlforscher können auch zur Personalfrage etwas beitragen: In der ARD vermeldet Jörg Schönenborn, dass nur 17 Prozent der Befragten eine gute Meinung über Parteichef Philipp Rösler haben. Spitzenmann Rainer Brüderle wird nur von 27 Prozent gut bewertet, während der geschasste Außenminister Guido Westerwelle auf einen Popularitätswert von 48 Prozent kommt. Das würde bedeuten, dass die FDP im Wahlkampf auf die falschen Köpfe gesetzt hat.

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