Rechtsextremismus in Sachsen:Unter Naziverdacht

Rechtsextremismus in Sachsen: Heidenau und Freital: beide Städte liegen in Sachsen, nur 20 Kilometer voneinander entfernt.

Heidenau und Freital: beide Städte liegen in Sachsen, nur 20 Kilometer voneinander entfernt.

(Foto: imago/dpa)

Immer wieder werden Städte in Ostdeutschland zu Chiffren für Fremdenhass und rechtsextremen Terror. Wie damit umgehen? Ein Besuch in Heidenau und Freital. Zwei Orte zwischen Verdrängung und Gottvertrauen.

Von Antonie Rietzschel, Heidenau und Freital

Still und verlassen steht das Haus da. Ein langer Kasten mit spitz zulaufendem Dach. Dichte Tannen versperren den Blick auf das Tal, in dem sich die Wohnhäuser der Stadt an einer langen Durchfahrtsstraße aneinanderreihen. "Leonardo", so nennen die Freitaler das Gebäude. Der elegante Name erinnert an bessere Zeiten. Als die 160 Zimmer des Hauses Teil eines Hotelkomplexes waren. Drei Sterne, Sauna, Tagungsräume, Terrasse im Grünen.

2015 machten die Betreiber das Hotel dicht. Die Stadt nutzte es als Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Jetzt steht das Haus leer und wirkt wie ein vergessenes Mahnmal: An der braunen Glastür klebt noch immer eine Liste von Asylbewerbern, die Zutrittsverbot haben. Bilal, Hedi, Ahmed, Ali - insgesamt 40 Namen sind aufgeführt. Im Foyer hängt eine Girlande, die Flüchtlingshelfer aus Postkarten gebastelt haben: "Ich will nicht in einer Gesellschaft leben, die so etwas macht", steht da. Kein Willkommensgruß. Ein Kommentar zu den asylfeindlichen Demonstrationen, die Freital und seine 39 300 Einwohner im Sommer 2015 bundesweit bekannt machten. Die "Tagesschau" berichtete. Der Spiegel schrieb von "Hass-Predigern", das Magazin Stern vom "braunsten Tal Deutschlands". Als schließlich die Mitglieder einer rechtsextremen Terrorgruppe festgenommen wurden, war der Name der Stadt auch im Ausland ein Begriff.

Auf Freital folgte Heidenau, Clausnitz, Bautzen. Und 2018 Chemnitz, wo am 16. November Angela Merkel zum Bürgerdialog erwartet wird. All diese Städte und Gemeinden zeigen, dass es nur einen guten Anlass sowie einen Ort braucht und sogenannte besorgte Bürger, Rechtsextreme, Neonazis stehen zur Hassparade bereit. Und selbst wenn die "Flüchtlinge raus"-Rufe verstummt, die Journalisten verschwunden sind - das Stigma bleibt. Die Menschen müssen mit der Gewissheit leben, dass ihr Heimatort nicht mehr nur ein Punkt auf einer Landkarte ist, sondern eine Chiffre für Hass und Terror. Noch schlimmer ist für viele der Riss, der sich durch die Bevölkerung zieht, Familien und Freundeskreise trennt. Lässt er sich je wieder schließen?

Schlechte Erinnerungen

"Wir sind ein Team", ruft Candido Mahoche. In Trainingshose und Windjacke steht er auf dem Fußballfeld des Freitaler Vereins Hainsberger SV. Der Kunstrasen glänzt in der Sonne silbrig. Mahoche bildet mit zehn Kindern einen Kreis. Einige tragen orangefarbene Leibchen, die wie Säcke von den schmalen Schultern hängen. Auf einem blauen Trikot steht "Neuer", "Lisandro" auf einem anderen. Große Idole für die Kleinen. Die Jungen und Mädchen halten sich an den Händen. "Wir sind ein Team", rufen die Kinder.

Seit zehn Jahren ist Candido Mahoche Nachwuchstrainer. Darüber würde der 60-Jährige am liebsten sprechen, als er sich nach dem Training im Vereinsheim auf einen schwarzen Drehstuhl setzt. "Den habe ich früher trainiert", sagt Mahoche und zeigt durch das Fenster auf einen jungen Mann mit blondiertem Haarschopf. Der ausgestreckte Finger wandert zu einer jungen Frau mit Locken. "Die och." Doch an diesem Nachmittag soll es um den Sommer 2015 gehen. Mahoche verschränkt die Arme vor der Brust. Als könnte er so die Erinnerung fernhalten.

Freital kam damals wochenlang nicht zur Ruhe. In der Stadt formierten sich Bürgerinitiativen, sie hießen "Freital wehrt sich" oder "Frigida - unsere Stadt bleibt sauber". Rechtsextreme und sogenannte besorgte Bürger marschierten gemeinsam hinter Transparenten: "Kein Ort zum Flüchten", stand drauf oder: "Keine Duldung von Sozialschmarotzern". Vor dem Flüchtlingsheim, dem "Leonardo" spielten sich Szenen wie diese ab: Eine Frau mit dunklem Pferdeschwanz steht vor dem Demonstrationszug, der sich in Rufweite versammelt hat. Mit schriller Stimme brüllt sie: "Asylbewerber?". "Raus!", grölen Hunderte Stimmen im Hass-Stakkato. "Antifa?" "Raus!". Die ersten Flüchtlinge konnten nur unter Polizeischutz in die Unterkunft einziehen.

Die Polizei sichert Freitaler Flüchtlingsheim während Demonstrationen

Monatelang demonstrierten Asylgegner vor dem "Leonardo".

(Foto: Oliver Killig/dpa)

Aus der Hetze wurde Terror. Auf den Demonstrationen fanden sich die Mitglieder der "Gruppe Freital". Unauffällige Leute, darunter ein Busfahrer, ein Pizzalieferant. Sie begingen mehrere Sprengstoffanschläge auf Wohnungen, in denen Flüchtlinge lebten. Die Angriffe richteten sich auch gegen politische Gegner. Das Fenster des Linken-Büros zersplitterte unter der Wucht einer Explosion. Mitglieder der Terrorgruppe zündeten einen Sprengsatz im Auto eines Linken-Stadtrats, der sich für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen hatte. Die Scheiben des grünen Golfs zerbarsten, der Rückspiegel und einige Kabel wurden aus der Halterung gerissen. Der Stadtrat hat Freital verlassen, aus Angst (ein Porträt).

Freital

Die zerstörte Scheibe des Parteibüros der Linken in Freital.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Candido Mahoche findet das bedauerlich. "Aber man muss auch sehen, in welcher Partei der war; hat sich mit einigen Leuten angelegt", sagt er. Mit anderen Worten: Selbst schuld. Eine Einstellung, die in Freital nicht überrascht. Die Anschläge wurden von vielen Bewohnern verharmlost. Von "Lausbuben" war die Rede. Der Bürgermeister sprach von Taten Einzelner, die man nicht so ernst nehmen solle. Das Oberlandesgericht Dresden sah das anders, verurteilte die Mitglieder der Terrorgruppe im März 2018 zu hohen Haftstrafen.

Die Bürgerinitiative, aus der die Gruppe hervor ging, ist weiterhin aktiv - hat sich längst vernetzt mit anderen Gruppen wie Pegida. Trotzdem sagt Candido Mahoche, Rassismus und Rechtsextremismus seien in der Stadt kein Problem. Dahinter steckt eine einfache Logik: 2014 zog Mahoche bei der Kommunalwahl für die CDU in den Stadtrat ein. "Wenn die Freitaler jemanden wie mich unterstützen, dann können sie nicht rassistisch sein." Mahoche ist schwarz. Er stammt aus Mosambik. Seine Mutter war Analphabetin, die Familie lebte von dem, was die Kokospalmen und das Tabakfeld abwarfen. 1980 kam er als Vertragsarbeiter in die DDR.

Heidenau Freital

Candido Mahoche auf dem Sportplatz.

(Foto: Antonie Rietzschel)

Er wohnte zunächst in einem Wohnheim im Süden Dresdens. Es gab klare Regeln: Morgens Deutschunterricht. Zusätzlich ein Jahr Marxismus und Leninismus. Am Nachmittag arbeitete Mahoche in einem Dresdner Getränkekombinat. 22 Uhr mussten alle im Wohnheim sein. Einmal im Monat war Putztag. Ein Betreuer kontrollierte die Zimmer und die gemeinsame Küche auf Sauberkeit. War er nicht zufrieden, gab es Ausgangssperren. Man könnte es als Schikane bezeichnen. Mahoche nennt es "gute Organisation".

In der ersten Reihe ruft jemand "Halt's Maul!"

Erst nach vielem Nachfragen kommt Mahoche auf Anfeindungen gegen ihn zu sprechen. Seine damalige Freundin und heutige Frau musste sich fragen lassen, ob sie sich nicht schäme, mit dem "Neger" herumzulaufen. Auf der Straße, im Restaurant. "Die Leute waren Schwarze nicht gewöhnt." Mahoche findet für alles eine Entschuldigung, eine Lösung. Als er mal im Bus zur Arbeit fuhr, sagte jemand, der "Neger" könne auch mal aufstehen. Seitdem macht er sofort Platz, wenn Ältere oder Schwangere den Bus betraten.

Höflichkeit, Fleiß und Sauberkeit - so reagiert Mahoche auf Rassismus und Ressentiments. Das passt zu dem Motto, das ihn durchs Leben trägt: "Wenn etwas nicht läuft, sind nie die anderen schuld - immer du selbst." Mahoche lebt mit der Einstellung gut in Freital. Seit mehr als 30 Jahren. Er hat hier eine Heimat gefunden, auch Dank des Fußballs. Als Nachwuchstrainer brachte er Hunderten Kindern aus der Stadt das Dribbeln bei. Spielte selbst in den diversen Herrenmannschaften des Vereins, gewann die Kreisliga. Er fand in Freital Freunde, Bekannte, Unterstützer. Einige erkannte er 2015 bei den asylfeindlichen Demonstrationen wieder. Beim Joggen sah er sie. Er rannte weiter, er rannte weg.

"Endlich herrscht wieder Ruhe"

"Die Kinder sollten uns Vorbild sein", sagt Mahoche plötzlich unvermittelt. "Ihnen ist egal, welche Hautfarbe jemand hat." Als 2015 Flüchtlinge in die Stadt zogen, kamen auch Jungen und Mädchen aus Syrien zum Training. Sie liefen mit den deutschen Kindern Slalom durch orangefarbene Kegel, droschen den Ball ins Netz, wälzten sich auf dem Boden, wenn er daneben ging.

Auch beim Training der Erwachsenenmannschaften tauchten junge Asylbewerber auf. "Da ist einer", sagt Mahoche freudig. Er zeigt mit dem Finger auf einen jungen Mann mit krausen Locken, als habe er eine seltene Spezies entdeckt. Gerade mal 70 Flüchtlinge leben noch in Freital. Viele sind weggezogen, nach Dresden oder zu Verwandten in den Westen. Findet Mahoche das schade? Er überlegt kurz, knetet sein blaues Basecap in den Händen. "Nein", sagt er. Er sei einfach froh. "Endlich herrscht wieder Ruhe."

Doch wie trügerisch diese Ruhe ist, zeigt sich an einem Montagabend Anfang September. Die violetten Stühle im Freitaler Stadtkulturhaus sind gut gefüllt. Auf der Bühne des Theaters sangen schon die Regensburger Domspatzen, trompete Stefan Mross. Jetzt wird der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer erwartet. Seit Monaten tourt er durch Sachsen, um mit den Menschen zu sprechen. Weinböhla, Königstein, Sayda - Freital ist eine Station von vielen. Doch der Besuch ist auch ein Stimmungsmesser. Vor drei Jahren musste die CDU eine Diskussionsveranstaltung zur Asylpolitik absagen, weil es Drohungen gab. Der Beginn des Abends verläuft noch ruhig. Kretschmer tritt unter Applaus an den weißen Tisch vor der Bühne. Der Ministerpräsident bedankt sich für den "freundlichen Empfang".

An der Seite stehen Bürger mit Fragen bereit - eine Schlange voller Sorgen. Dem Anfang macht eine Frau, deren Verfahren vom Sozialgericht seit Jahren verschleppt wird. In der Hand hält sie die Akte. Kretschmer sagt: "Nehm ich mit, ich melde mich." Die Menschen wollen über fehlende Unterstützung für die Freiwillige Feuerwehr sprechen, über Handyverbot in der Schule. Kretschmer hört geduldig zu. Wenn er antwortet, läuft er mit dem Mikrofon in der Hand an seinem Tisch auf und ab. Ein Rentner erzählt von einem Polizisten, der gegen ihn Anzeige erstattet habe, weil er gegen das Überholverbot verstoßen habe. Er sei sich aber keiner Schuld bewusst. Ob Kretschmer den Beamten nicht zur Rechenschaft ziehen könne. Der Saal lacht, der Ministerpräsident lacht.

Verschweigen und Verdrängen

Doch als es schließlich um das Thema Flucht und Migration geht, zieht sich Kretschmer hinter den Tisch zurück, als sei der eine schützende Barrikade. Ein Mann zitiert Innenminister Horst Seehofer, sagt, die Migration sei die Mutter aller Probleme. Dann präsentiert er eine Liste an Dingen, die die Flüchtlingspolitik aus seiner Sicht verschuldet hat: Kaputte Radwege, schlechter Schulunterricht, gestiegene Kfz-Steuer. Ein Stadtrat der AfD fragt, warum syrische Flüchtlinge nicht längst zurück in ihrer Heimat sind. Kretschmer spricht viel über konsequente Abschiebungen und macht dabei eine wegschiebende Geste mit der Hand. Er weiß, was das Freitaler Publikum hören will - und was nicht.

Ein junger Mann tritt neben den Tisch. In der Hand hält er zwei mit Bleistift eng beschriebene A4-Seiten. Er beginnt zu lesen: "Meine Schwiegermutter ist Thailänderin. Montagabend ging ich mit meiner Frau durch Dresden und uns wurde von Pegidisten 'Blutschande' zugerufen. Niemand griff ein. Vor einem Jahr sah ich beim Einkaufen einen Mann, der mit einem tätowierten Porträt von Adolf Hitler einkaufen ging. Die herbeigerufene Polizei riet mir, keine Anzeige wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole zu machen, da der Nazi dann meine Adresse wüsste." Der junge Mann liest weiter, klagt Rechtsextremismus in Sachsen an, das Versagen der Politik, der Sicherheitsbehörden, der Zivilgesellschaft. In der ersten Reihe ruft jemand: "Halt's Maul!"

Verschweigen und Verdrängen - so ist die sächsische Landesregierung über Jahrzehnte mit Rassismus und Rechtsextremismus umgegangen. Michael Kretschmer ist der erste sächsische Ministerpräsident und prominente CDU-Politiker, der klare Worte fand. In einer Regierungserklärung bezeichnete er Rechtsextremismus als "größte Gefahr für unsere Demokratie". Das war kurz nachdem Neonazis und Hooligans Ende August 2018 durch Chemnitz zogen und ausländerfeindliche Parolen riefen. Es ist eine Einsicht, die spät kommt. Zu spät für Freital, wo viele Bewohner eine schweigende Übereinkunft getroffen zu haben scheinen: Bloß nicht drüber reden.

Der Heidenauer Bürgermeister wurde als Held gefeiert.

Jürgen Opitz hat sich dem Hass gestellt. Der CDU-Politiker ist Bürgermeister von Heidenau, einer aus mehreren Dörfern zusammengewürfelten Stadt, die sich an der alten B 172 entlangschlängelt. Die Straße verbindet Sächsische Schweiz und Dresden miteinander.

Genauso wie Freital musste Heidenau im Sommer 2015 kurzfristig Hunderte Flüchtlinge unterbringen. Innerhalb weniger Tage ließ die Stadt einen ehemaligen Baumarkt zu einer Erstaufnahmeeinrichtung umbauen. Vor dem Heim kam es zu heftigen Ausschreitungen. 150 Neonazis randalierten in der Dunkelheit, warfen Böller. Die Polizei war überfordert. Heidenauer sahen aus der Ferne zu, das Bier in der Hand.

Rechtsextremismus in Sachsen: Ende August 2015 randalierten Neonazis vor der Flüchtlingsunterkunft.

Ende August 2015 randalierten Neonazis vor der Flüchtlingsunterkunft.

(Foto: Arno Burgi/AP)

In den Tagen nach den Ausschreitungen sah man Jürgen Opitz meist umringt von Kamerateams, Journalisten hielten ihm Handys und Aufnahmegeräte unter die Nase. Er sprach von "Hass" und "Hetze". Von "menschenverachtendem Verhalten". Von "Terror". Opitz sagte aber auch: Heidenau sei eine familienfreundliche Stadt. "Da beziehen wir ausdrücklich die Asylsuchenden, die hier leben, mit ein. Und auch die, die noch kommen." Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel besuchte Heidenau, dankte Opitz, "dass er keinen Meter zurückgewichen ist". In den Medien würde er als "Bürger-Meister", als "Held" gefeiert. Opitz stand neben Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sagte "Danke denen, die auch vor Ort Hass zu ertragen haben, dass sie es ertragen." Dann stieg sie wieder in ihre schwarze Limousine. Und Opitz blieb mit jenen zurück, die der Kanzlerin "Volksverräter"-Rufe hinterher schickten.

Bundeswirtschaftsminister Gabriel auf Sommerreise

Jürgen Opitz (rechts) mit Sigmar Gabriel.

(Foto: dpa)

Wie hat er das ausgehalten? Wie hat er durchgehalten?

Jürgen Opitz sitzt in seinem Büro im Rathaus. An den Wänden hängen Fotos vom Platz der Freiheit. Großformatige Ansichten, die zeigen, wie sich der Ort in 80 Jahren verändert hat, von der Brache zu einem Platz des Verweilens wurde, mit einem frisch sanierten Wohnhaus, gestutzten Hecken, aufgehübschtem Busbahnhof. Ein Symbol für den Wandel der Stadt: Einst stolzer Industriestandort, brach nach der Wende alles zusammen. Arbeitslosigkeit, Abwanderung, verfallene Häuser. Ein Schicksal, das Heidenau mit Freital teilt. Doch mittlerweile haben sich neue Firmen angesiedelt. Die steigenden Mieten in Dresden ließ die Zahl der Einwohner auf 17 000 steigen.

Das Büro von Jürgen Opitz wirkt kühl. Neonlicht von oben, auf dem Schreibtisch liegen sauber sortierte Akten. Nirgendwo stehen persönliche Gegenstände, nicht mal ein Bild von Opitz' Frau, mit der er seit 40 Jahren verheiratet ist. Der 63-Jährige trennt den Privatmann vom Bürgermeister. Bloß keine Ablenkung. Vor allem nicht bei schwierigen Entscheidungen. Als Bürgermeister habe er im Sommer 2015 zwei Möglichkeiten gehabt, sagt Opitz: Umkippen oder die Sache durchziehen. Opitz zog durch. Auch mithilfe seines Glaubens.

Opitz ist Katholik. Er zitiert das Gedicht "Spuren im Sand" von Margaret Fishback Powers: Es handelt von einem Menschen, der im Traum mit Gott am Strand entlanggeht. Am dunklen Nachthimmel ziehen Bilder seines Lebens vorbei, gleichzeitig sieht er zwei Fußspuren im Sand: Die eigenen und die Gottes. Doch an vielen Stellen des Lebensweges ist nur eine Spur zu sehen, gerade in den schwersten Zeiten. Warum er ihn alleinließ, als er ihn am meisten gebraucht hat, fragt der Mensch. Gott antwortet: "Mein liebes Kind, ich liebe dich und werde dich nie alleinlassen, erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten. Dort, wo du nur eine Spur gesehen hast, da habe ich dich getragen." Opitz schluckt.

Im Sommer 2015 fand er Trost und Kraft in diesen Worten. Als Rechtsextreme vor seinem Haus "Volksverräter" brüllten. Und "Opitz raus". Als ein Kind im Vorbeigehen sagte: "Scheiß Bürgermeister". Als seine Frau die Zeitung aus dem Briefkasten holen wollte und einen Drohbrief fand. Als er in einem Interview sagte: "Ich habe keine Angst."

Der Geschmack der Heimat: bitter und süß

Immer wieder lud Opitz die Menschen zum Gespräch ins Rathaus ein. Manche kamen direkt nach der Arbeit zu ihm, in verdreckten Klamotten, die Arbeitshandschuhe noch an den Händen. Opitz erklärte, warum die Asylbewerber da sind und Hilfe benötigen, aus welchen Ländern sie kommen. Eine Frau gestand Opitz unter Tränen, unter jenen gewesen zu sein, die vor seinem Haus "Völksverräter" gerufen hatte. Sie entschuldigte sich. "Liebe den Sünder, nicht die Sünde", sagt Opitz.

Er betont immer wieder, der Bürgermeister für alle Heidenauer sein zu wollen. Das schließt auch die Flüchtlinge mit ein. Die Stadt hat viel für deren Integration getan. Im Rathaus hat ein Integrationsbeauftragter die zahlreichen ehrenamtlichen Angebote im Blick: Deutschkurs, Kochnachmittag, Trommelgruppe, Begegnungscafé. Dazu kommen spezielle Ausbildungsmaßnahmen für geflüchtete Jugendliche, Computerkurse. Demnächst soll es einen regelmäßigen Stammtisch geben, bei dem Migranten offen über Rassismus in der Stadt reden können.

2019 wird ein neuer Bürgermeister gewählt

Trotzdem kommt es immer noch vor, dass Geflüchtete Aufkleber mit diffarmierenden Sprüchen an ihren Briefkästen finden. Dazu kommen die Sprüche auf der Straße: "Ihr habt hier nichts zu suchen. Geht zurück!" Und doch ist in Heidenau nach dem Gegeneinander von Flüchtlingen und Einheimischen zumindest ein Nebeneinander möglich geworden. Friedlich und gewaltfrei. Ein Nebeneinander, das auch das eine oder andere Happy End möglich macht.

Zukaa Almasri sitzt auf der Couch ihrer Dreizimmerwohnung. In der Hand hält die 37-Jährige ihr Handy. Sie zeigt das Bild einer Braut, zarte weiße Blümchen in den braunen Haaren, Perlen blitzen auf der weißen Korsage. Daneben eine Frau im langen tiefroten mit Glitzersteinen besetzten Kleid, Zukaa Almasri. Die Braut ist ihre älteste Tochter. Im Sommer hat die 18-Jährige geheiratet. Gefeiert wurde im Heidenauer Stadthaus. Die Hochzeitstorte, verziert mit weißen Zuckerröschen, hat Zukaa Almasri selbst gebacken. Ein Video zeigt das Paar beim Anschneiden, im Hintergrund sind die trillernden Freudenrufe der Frauen zu hören. Zukaa Almasri lächelt.

Auf dem Couchtisch stehen selbst gebackene Kekse, sie schmecken süß, leicht bitter. Sie schmecken nach der syrischen Heimat. Vor gut drei Jahren lebte die Familie in Damaskus. Abends saß Zukaa Almasri auf der Straße mit den Nachbarn zusammen. In Heidenau ist an diesem schönen Herbstabend kaum noch jemand auf der Straße.

Nur wenige Gehminuten sind es von Almasris Wohnung bis zu dem alten Baumarkt, der ehemaligen Asylunterkunft. Sie weiß nichts von den Ausschreitungen. Im Sommer 2015 war die Mutter mit zwei Töchtern unterwegs nach Deutschland, ohne ihren Mann. Über München und Chemnitz kamen sie im Januar 2016 nach Heidenau. Almasri war wieder schwanger. Es dauerte zwei Jahre, bis ihr Mann mit den übrigen Kindern nachziehen durfte und zum ersten Mal seinen Sohn in den Armen hielt.

Heidenau Freital

Zukaa Almasri (Mitte) mit einem Teil ihrer Familie.

(Foto: Antonie Rietzschel)

Der Junge ist heute zwei Jahre alt. Seine Hand greift nach den Erdnüssen auf dem Couchtisch, der Vater zieht ihn weg. "Nein", sagt er. Es ist eines der wenigen deutschen Worte, die er kann, obwohl er jeden Tag nach Dresden zum Deutschunterricht fährt. Seine Frau hat noch nie einen Sprachkurs besucht. Behördengänge, Arztbesuche, Elternabende - Mutter und Vater sind in solchen Situationen hilflos. Besonders seitdem die älteste Tochter nicht mehr bei der Familie wohnt, sondern in Rostock bei ihrem Mann, der auch aus Syrien stammt.

Bis zum Miteinander braucht es Zeit

Sie fühle sich wohl in Heidenau sagt Zukaa Almasri. Für sie ist es der Ort, an dem sie und ihre Familie sicher sind vor dem Krieg. Wo die Nachbarn zwar nicht einfach zum Tee vorbeikommen, aber schon mal auf die Kinder aufpassen. Wo sie als Familie wieder vereint vor dem Fernseher sitzen. Würde man den Stand der Integration am Filmgeschmack messen, könnte die Familie als typisch deutsch durchgehen. Sie liebt "Honig im Kopf" von Til Schweiger.

Aber natürlich weiß Zukaa Almasri, welche Mühen noch vor ihnen liegen, um heimisch zu werden in Deutschland. So wie auch Heidenau erst einen Teil des Weges geschafft hat. Vom Nebeneinander bis zum Miteinander braucht es Zeit. Doch die ist knapp. September 2019 sind Landtagswahlen in Sachsen. Zur Bundestagswahl wurde die Alternative für Deutschland (AfD) stärkste Kraft in Sachsen. Heidenau liegt im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, einer blauen Hochburg. Am Tag der Landtagswahl stimmen die Heidenauer auch über ihren Bürgermeister ab. Jürgen Opitz wird noch mal antreten. Sollte die AfD einen Kandidaten aufstellen, braucht es einen wie ihn. Davon ist er überzeugt. Einen, der dagegenhält.

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