Proteste in der Türkei:Kleiner Funke, große Wirkung

Angst vor einer Islamisierung der Türkei: Demonstranten am Taksim-Platz (Foto: REUTERS)

Die Qualität eines Demokraten wird nicht danach beurteilt, was er für die Mehrheit tut, sondern wie er mit der Minderheit umgeht. Das hat der türkische Premier Erdogan vergessen. Dass sich die Wut über seinen autoritären Stil entlädt, war deswegen nur eine Frage der Zeit.

Ein Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Muslim und Demokrat wollte Regierungschef Recep Tayyip Erdogan sein und sein Land zum Vorbild im Nahen Osten machen. Fast zehn Jahre lang hat das Modell Türkei, unterstützt von einem langen Wirtschaftsboom, auch gut funktioniert. Zuletzt aber ist Erdogan der Erfolg zu Kopf gestiegen. Er hat vergessen, dass die Qualität eines Demokraten nicht danach beurteilt wird, was er für die Mehrheit tut, sondern wie er mit der Minderheit umgeht.

Respekt für Andersdenkende? Da zeigte Erdogan fast nur noch Ignoranz. Immer mehr kehrte er den sunnitischen Muslim raus, und immer weniger agierte er als Demokrat. Deshalb ist die Wut nun so groß. Der Protest für die Rettung eines Parks in Istanbul war nur das Streichholz, das es gebraucht hat, um ein großes Feuer anzuzünden.

Es wird genährt von der Angst, eine religiöse Mehrheit wolle der säkularen Minderheit und den liberalen Muslimen ihren konservativ-islamischen Lebensstil aufdrücken. Dazu kommen der Ärger über die wachsende Korruption der Mächtigen und nicht zuletzt Kriegsängste wegen des Syrien-Konflikts.

Angefeuert hat den Aufstand die Brutalität der Polizei. Tagelang durften die Sicherheitskräfte ungezügelt auf Demonstranten eindreschen, bis Ankara zur Mäßigung aufrief. "Null Toleranz für Folter" hatte Erdogan einst auch zur Maxime erklärt. Mit der Gewaltorgie hat er auch das Versprechen gebrochen.

© SZ vom 03.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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