Ökonomie:Der Traum vom Grundeinkommen

Lesezeit: 4 min

Ein Weltwirtschaftswunder versprechen Georgios Zervas und Peter Spiegel, doch diese zuletzt wieder viel beachtete Idee steht vor kaum überwindbaren Hürden.

Von Friederike Bauer

Der Gedanke ist bestechend: Alle Menschen rund um den Globus erhalten einen Mindestlohn von einem Dollar - oder mehr - pro Stunde. Auf diese Weise bräuchte niemand mehr um Almosen zu bitten, die schlimmsten Formen der Ausbeutung wären beseitigt, und die Armen hätten mehr Geld. Sie könnten sich ausreichend Essen und Kleider kaufen, unbedenkliches Wasser und saubere Energie leisten und sie könnten mehr Geld in die Bildung ihrer Kinder stecken. Damit würden sie nicht nur ihr eigenes Leben deutlich verbessern, sondern sogar noch die Wirtschaft ankurbeln - allen wäre geholfen. Und sie hätten eine Perspektive in ihrer eigenen Region, müssten sich nicht zu Zigtausenden auf den Weg in ferne Länder machen. Jüngst hat Siemens-Chef Joe Kaeser die Debatte befeuert mit dem Satz, "eine Art Grundeinkommen" werde künftig "völlig unvermeidlich sein".

Weder die UN, die EU noch die ILO eignen sich zur Umsetzung oder Überwachung des Mindestlohns

Die "Ein-Dollar-Revolution" nennen der Unternehmensberater Georgios Zervas und der Zukunftsforscher Peter Spiegel ihre Idee für ein "öko-soziales Weltwirtschaftswunder", das die "Armut in kürzester Zeit und weltweit in die Geschichte verbannen würde". Konkret hieße das: Eine Näherin in Bangladesch verdiente dann, so rechnen die Autoren vor, mit 160 Dollar etwa vier Mal so viel im Monat wie heute. Die Jeans, von denen sie vier in der Stunde fertigen kann, kostete 45 statt 15 Cent. Weil die Näherin am Gesamtbetrag den geringsten Anteil hat, entstünden trotz dieser deutlichen Steigerung aus ihrer Sicht für den Konsumenten nur Mehrkosten von 0,4 Prozent. Bei anderen Produkten könnte der Aufpreis auch höher ausfallen, aber nicht hoch genug, um das Weltwirtschaftsgefüge komplett aus den Angeln zu heben, zumal Inflation im Moment sowieso kein großes Thema ist.

Damit die "Ein-Dollar-Idee" auch wirklich zündete und nicht sofort durch Lohndumping anderswo untergraben würde, müsste so ein Mindestlohn wettbewerbsneutral gestaltet sein, sprich: weltweit gelten. Bei einer globalen Lösung blieben wettbewerbsverzerrende Wirkungen aus, sagen die Autoren, da die höheren Stundenlöhne überall anfielen, die "Spielregeln" für alle ähnlich wären. Ergänzend dazu bräuchte es noch Mindestpreise für landwirtschaftliche Produkte, weil das Konzept des Mindestlohns dort wegen variierender Ernterhythmen nicht eins zu eins anwendbar sei. Und schließlich gäbe es ein Mindesteinkommen für Menschen, die keine Arbeit haben. Sie sollen 1,25 Dollar pro Tag erhalten. Geld, das aus einem globalen Fonds bezahlt wird, in den eine internationale Steuer von einem Prozent auf alle Produkte und Dienstleistungen fließen würde. Es wäre eine Art globale Konsumsteuer, die alle UN-Mitgliedstaaten monatlich an die Vereinten Nationen zu entrichten hätten.

Mit diesem - etwas vereinfacht dargestellten - Dreiklang meinen Spiegel und Zervas das "größte soziale und ökonomische Wachstumspotenzial" jemals freizusetzen. Und tatsächlich klingt ihr Vorschlag zunächst ganz plausibel: dass die Armut zu den größten Problemen unserer Zeit gehört, ist kein Geheimnis. Sie bringt nicht nur Leid über die betroffenen Menschen, sondern hat auch Einfluss auf ein ganzes Bündel anderer Faktoren, von der Energienutzung (Stichwort Holzverbrauch) bis zur Bevölkerungsentwicklung, von Bildungsfortschritten bis zur Wassernutzung - immer spielt Armut eine entscheidende Rolle. Ganz zu schweigen vom moralischen Anspruch einer aufgeklärten Welt, in der für Elend dieser Art eigentlich kein Platz mehr sein dürfte. Und doch leben nach UN-Angaben immer noch rund zehn Prozent aller Menschen in absoluter Armut, sie haben heute höchstens zwischen einem und zwei Dollar am Tag zur Verfügung. Ein globaler Mindestlohn hätte also segensreiche Wirkungen gleich in mehrfacher Hinsicht.

Nur bei einer globalen Lösung blieben wettbewerbsverzerrende Wirkungen aus

Und doch sind Zweifel angebracht, vor allem wenn es an die Umsetzung der Idee geht. Dass die UN, die seit fünf Jahren keine Lösung für den Syrien-Konflikt finden, die zwanzig Jahre verhandeln mussten, ehe sie ein halbwegs tragfähiges politisches Konzept gegen den Klimawandel hervorbrachten, die fünfzig Jahre brauchten, um einen Internationalen Strafgerichtshof zu gründen, dass ausgerechnet diese Weltorganisation dazu fähig sein soll, demnächst etwas so Weitreichendes wie einen globalen Mindestlohn zu beschließen, grenzt an Träumerei.

Die Vereinten Nationen haben zweifellos ihren Wert und Nutzen und in ihrer siebzigjährigen Geschichte auch schon manches erreicht, aber mit schnellen Entscheidungen braucht man von dort nach derzeitiger Lage der Dinge nicht zu rechnen. Schon gar nicht mit einem globalen Fonds und einer internationalen Steuer, wo doch schon das Pendant dazu, die sogenannte Tobin Tax, eine Transaktionsteuer, seit Jahrzehnten gefordert, aber immer wieder zerredet wird. Und schließlich die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), denen Zervas und Spiegel die Rolle des Oberkontrolleurs in Sachen Mindestlohn zuschreiben. Dabei sind schon die Kernarbeitsnormen der ILO, die bestimmte Mindestanforderungen für das Arbeitsleben festschreiben, bis heute in weiten Teilen der Welt ein frommes Ziel.

Georgios Zervas, Peter Spiegel: Die 1-Dollar-Revolution. Globaler Mindestlohn gegen Ausbeutung und Armut. Piper-Verlag München 2016, 256 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro. (Foto: Piper Verlag)

Weil die Autoren selbst offenbar auch Zweifel an der Durchschlagskraft der UN haben, empfehlen sie die Europäische Union als Vorreiter. Die EU-Länder sollten mit gutem Beispiel vorangehen und den Mindestlohn in einer schon bestehenden EU-Verordnung verankern. Dann wären die europäischen Unternehmen nach einer Übergangszeit verpflichtet, diese Vorgabe umzusetzen. Bei Zuwiderhandlungen müssten sie ihre Produkte zurückrufen und würden irgendwann sogar ganz vom EU-Markt ausgeschlossen.

Klingt einfach in der Theorie, aber trifft die Idee auch die Praxis? Eher nicht. Statt einheitlicher, vorausschauender Politik scheinen in der EU derzeit vor allem die Fliehkräfte zu dominieren; der Brexit ist nur das eklatanteste Beispiel. Überhaupt haben die Autoren das Kapitel zur EU so optimistisch formuliert, dass man sich angesichts der realen Verhältnisse nur die Augen reiben kann. "Während die USA in jüngerer Zeit dramatisch an Ansehen und Einfluss verloren haben, ist Europa zur stillen Supermacht aufgestiegen", heißt es dort. Eine Passage, die man nicht weiter kommentieren muss. Auch sonst hat das Buch, obwohl es eingängig, streckenweise sogar originell geschrieben ist, eher Kampagnencharakter. Wenn die Autoren zum x-ten Mal betonen, was so ein Mindestlohn alles lösen könnte, damit es auch wirklich jeder versteht, verlieren sie die Leser allmählich.

So bleibt als Fazit, dass der Mindestlohn vom Prinzip her wahrscheinlich eine gute Sache wäre, auch wenn er vielleicht nicht ganz so viel bewirken könnte, wie die Autoren vorgeben. Zu den maßgeblichen Fluchtursachen zum Beispiel zählen immer noch Kriege und Konflikte, die auch ein Mindestlohn nicht ohne Weiteres lösen könnte. Dass dieser zurzeit kaum Chancen auf Verwirklichung hat, kontern Zervas und Peter Spiegel mit dem Argument, jede große Neuerung habe einmal kühn begonnen. Mag sein. Aber nicht zuletzt dadurch verliert der Vorschlag rasch seinen revolutionären Geist und erinnert eher an ein "Ein-Dollar-Heilsversprechen".

Friederike Bauer arbeitet als freie Journalistin und schreibt vor allem über Außen- und Entwicklungspolitik.

© SZ vom 12.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: