NSU-Prozess in München:"Es war ein einfaches Weltbild, schwarz-weiß"

Defendant Carsten S. arrives for his trial in a courtroom in Munich

Carsten S. wurde am sechsten Prozesstag stundenlang von Richter Götzl befragt

(Foto: REUTERS)

Carsten S. brachte den NSU-Tätern die Mordwaffe. Später brach er mit der Nazi-Szene. Vor Gericht gibt er sich als einer, der seine Vergangenheit selbst nicht mehr versteht. Doch seine Erinnerung klafft eigenartig auseinander.

Von Annette Ramelsberger

Carsten S. war einmal ein hoher Funktionär der Jungen Nationaldemokraten. Er war Chef der NPD-Jugendorganisation in Jena, er saß im Bundesvorstand und war stellvertretender Landesvorsitzender in Thüringen. Er war auch ein enger Freund des Neonazis Ralf Wohlleben und am Ende hat er dem NSU-Trio die Waffe gebracht, mit der neun Menschen ermordet wurden. Dieser Mann hat angekündigt, vor Gericht reinen Tisch zu machen - doch nach über fünf Stunden, in denen Carsten S. vor dem Oberlandesgericht in München befragt wurde, drängt sich das Gefühl auf, dass er gar nicht weiß, was er alles auf dem Tisch angehäuft hatte, den er reinmachen will.

Carsten S. ist 33 Jahre alt und vermittelt mit jeder Antwort das Gefühl, als habe sein bewusstes Leben erst vor zehn Jahren begonnen - als er aus der rechtsradikalen Szene von Jena ausstieg und nach Düsseldorf ging, wo er in der Schwulenszene Halt fand. Alles davor? Carsten S. spricht, als wenn das ein völlig anderer Mensch gewesen wäre, der damals sein Leben gelebt hat. Einer, den er nicht kennt, und dessen Taten er nur aus den Gerichtsakten rekonstruiert. Ein Mann, dessen Gedanken er nicht erklären kann. Er redet davon, dass "es wahrscheinlich so war", dass er sich "das so zusammenreimt".

Seine Erinnerung klafft eigenartig auseinander: Noch winzigste äußere Einzelheiten sind ihm präsent, ihre Bedeutung aber will er vergessen haben. Er kann sich daran erinnern, dass ein Kumpel beim Überfall auf einen Dönerstand einen Schlüsselbund verloren hat, aber nicht, warum sie diesen Dönerstand überfallen haben. Oder es will ihm nicht mehr über die Lippen kommen.

Er weiß nicht mehr, was er in seinen Telefonaten mit dem NSU-Trio besprochen hat, nicht, was er mit seinem früheren Vertrauten Ralf Wohlleben redete, der neben ihm auf der Anklagebank sitzt, auch nicht das, was mit dem Angeklagten Holger G. Thema war, der ebenfalls Kontaktmann des NSU war. Aber dass sich die rechten Kameraden immer Plastiktüten über die Springerstiefel ziehen mussten, wenn sie bei ihm zuhause die Wohnung betraten, das hat er sich gemerkt: "Bei uns zieht man die Schuhe aus, aber die hohen Stiefel kann man ja nicht so leicht ausziehen."

"Ich habe mich stark gefühlt"

Carsten S. und Holger G. sind die wichtigsten Zeugen im NSU-Prozess. Der Angeklagte Carsten S. hofft darauf, dass seine Aussagebereitschaft ihm Strafmilderung bringt. Er hat zugegeben, die Mordwaffe überbracht und Kontakt mit dem NSU-Trio gehalten zu haben. Ohne ihn hätte die Bundesanwaltschaft wohl den Weg der Ceska-Pistole und die Verbindung zu Wohlleben nicht nachvollziehen können. Doch man spürt mit jedem Satz, wie Carsten S. versucht, seine Rolle in der rechten Szene kleinzureden. Ja, er habe mit seinen Freunden Dönerbuden umgeworfen und bei einem Überfall auch auf zwei Nazikritiker eingetreten - später habe er in der Zeitung gelesen, dass sie schwer verletzt waren. Aber die Deutschtümelei, die Holocaustleugnung der Rechtsradikalen, das sei für ihn nicht im Mittelpunkt gestanden. Richter Götzl fragt: "Was stand denn für Sie im Mittelpunkt?"

Carsten S.: "Ich wurde von Leuten gegrüßt, die mich früher gemobbt hatten. Ich hab' mich stark gefühlt." Jetzt lächelt Beate Zschäpe ein wenig mitleidig, ein wenig herablassend. Sie sitzt vor ihm und blickt konzentriert geradeaus.

NSU Prozess - Zschäpe

Beate Zschäpe betritt den Gerichtssaal. Sie hat angekündigt, nicht auszusagen. 

(Foto: dpa)

Richter Götzl befragt Carsten S. über Stunden.

Götzl: "Was war das Motiv dafür, dass Sie Dönerbuden umgeworfen haben?"

Carsten S.: "Es war eine lustige Aktion, wir haben denen eins ausgewischt."

Götzl: "Ich möchte die innere Motivation erfahren, die Sie dabei hatten."

Carsten S.: "Wenn da eine Bockwurstbude gestanden hätte, hätten wir das nicht gemacht."

Götzl: "Sie weichen mir jetzt etwas aus, Herr S.. Damit gebe ich mich nicht zufrieden. Was war die Motivation?"

Carsten S.: "Nervenkitzel, Action, es gab schon ein gewisses Feindbild."

Götzl: "Von welchem Feindbild sprechen Sie? Wen meinen Sie denn?"

Lange Pause, Stille.

Carsten S.: "Es war ein einfaches Weltbild, schwarz-weiß. Dass wir unsere Heimat einbüßen, dass wir regiert werden vom Finanzjudentum, in gewisser Weise habe ich daran auch geglaubt."

So ähnlich läuft die Befragung auch bei der Beschaffung der Mordwaffe. Warum er es getan hat, was er sich dabei gedacht hat, ob er Bedenken hatte - an nichts kann sich Carsten S. so recht erinnern. Nur, dass er von Wohlleben den Auftrag, "die Order", bekommen habe und dass er "Bauchschmerzen" hatte. Warum? Auch das weiß er nicht mehr. Am Dienstag hatte er noch gesagt, er hätte gedacht, es werde schon nichts passieren und die drei Untergetauchten seien in Ordnung.

Carsten S.' Verteidiger Johannes Pausch bittet gegen 16 Uhr um Unterbrechung, sein Mandant könne sich nicht mehr konzentrieren. Außerdem solle der psychiatrische Gutachter ihn unmittelbar erleben. Der aber ist diese Woche nicht da.

"Na gut", sagt Richter Götzl und schließt die Verhandlung. Selbst er erscheint an diesem Tag erschöpft.

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