NSA-Überwachung in den USA:Koalition der Unwilligen

Überraschend viele US-Abgeordnete sprechen sich für eine Beschränkung der NSA-Überwachung in Amerika aus, sogar Tea-Party-Abgeordnete und ultraliberale Demokraten sind ausnahmsweise einer Meinung. Kann das Votum im Repräsentantenhaus die gesellschaftliche Debatte in Gang bringen oder steckt hinter dem Stimmungswandel nur heiße Luft?

Von Johannes Kuhn

US House approves clarification of NSA surveillance

Der republikanische Abgeordnete Justin Amash bei einer Anhörung im Repräsentantenhaus.

(Foto: dpa)

Die Gratulationen gehen im Minutentakt ein. "Danke, dass Sie für unsere Privatsphäre kämpfen", "Vielen Dank, dass Sie unsere Verfassung verteidigen", heißt es auf Justin Amashs Facebook-Seite. Amerikaner überschütten den republikanischen Kongressabgeordneten mit Lob. Dabei hat der 33-Jährige doch eigentlich verloren.

205 Mitglieder des Repräsentantenhauses stimmten am Mittwoch für Amashs Antrag zur Beschränkung der US-Sicherheitsgesetze, 217 dagegen. Hätten sieben Nein-Sager die Seiten gewechselt, wäre ein Dogma ins Wanken geraten, das die amerikanischen Politik seit 2001 prägt: Sicherheit zuerst.

Unter anderem sah der Vorschlag vor, dass Geheimdienste nur noch bei konkreten Verdachtsfällen die Telefon-Verbindungsdaten von US-Bürgern hätten sammeln dürfen; das Geheimgericht FISC hätte Zusammenfassungen seiner Überwachungs-Anordnungen veröffentlichen müssen.

Das erscheint in europäischen Augen angesichts des möglichen Ausmaßes der internationalen Spionage ohnehin nur ein sehr kleiner Eingriff. Für US-Regierung und Geheimdienste jedoch Bedrohung genug, um Anfang der Woche alle Hebel in Bewegung zu setzen. Von einer "unverantwortlichen Idee" war die Rede, hinter den Kulissen versuchten Offizielle und Geheimdienstvertreter, die Abgeordneten von der Notwendigkeit des Status Quo zu überzeugen.

74 Prozent der Amerikaner sehen Privatsphäre verletzt

Das Gesetz wäre wahrscheinlich ohnehin im Senat gescheitert, doch das knappe Ergebnis des Votums hat Symbolcharakter. "Wir haben mit diesem knappen Ergebnis die Dynamik der Debatte verändert", triumphierte Amash via Twitter. Er hofft nun ebenso wie Bürgerrechtler, dass die gesellschaftliche Diskussion über die weitreichenden Befugnisse der NSA und die Intransparenz des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) Fahrt aufnimmt.

Aktuelle Meinungsumfragen deuten einen Umschwung zumindest an: 74 Prozent der Amerikaner sind inzwischen einer Umfrage von ABC und der Washington Post zufolge der Meinung, dass die Vorratsdatenspeicherung der NSA gegen das Recht auf Privatsphäre verstößt. Gleichzeitig halten deutlich weniger Amerikaner als in den vergangenen Jahren Sicherheit für wichtiger als die Unversehrtheit der Privatsphäre. Allerdings sind das immer noch 57 Prozent.

Auch im politischen Washington, das zunächst größtenteils gleichgültig und abwiegelnd auf die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden reagiert hatte, ist das Interesse in den vergangenen Wochen rasant gewachsen: Anhörungen von Regierungs- und Geheimdienstvertretern hatten kaum Aufklärung gebracht und so für Frustration und Trotz gesorgt.

Amashs Initiative, für die er sich sogar mit dem erzliberalen Demokraten John Conyers zusammentat, erhielt stetig wachsende Unterstützung von beiden Lagern der Politik - und das in einem Klima, in dem Republikaner und Demokraten die Zusammenarbeit zu großen Teilen eingestellt haben.

Auf den Spuren Ron Pauls

Die in Washington scherzhaft "Flügelmutter-Allianz" genannte Koalition der Unwilligen vereint die Extreme beider Parteien: Linke Demokraten und die rechte Republikaner-Minderheit der Libertären, deren Credo von der absoluten Freiheit des Einzelnen an dieser Stelle ausnahmsweise mit der Philosophie der Liberalen der Gegenseite korrespondiert.

Zum Anführer der Libertären im Repräsentantenhaus schwingt sich gerade eben jener Justin Amash auf. Der Sohn eines Palästinensers ist einer der jüngsten Kongressabgeordneten, 2010 spülte ihn die Tea-Party-Welle nach Washington. Von Parteikollegen häufig als "Kind" oder "Junge" bezeichnet, gilt er schon jetzt als enfant terrible: Gerne stimmt er gegen die Parteimehrheit, und wenn nur zwei von mehr als 400 Abgeordneten ein Gesetz ablehnen, ist er mit großer Wahrscheinlichkeit einer von ihnen.

Auf seiner Facebook-Seite begründet Amash jede einzelne Stimmabgabe. Ablehnungen erklärt er häufig damit, dass er keinen Regelungsbedarf durch den Staat sehe. Er enthält sich aber zum Beispiel auch, wenn er sich im Vorfeld nicht ausführlich genug über ein Gesetz informieren konnte. Mit seiner aufsässigen Haltung erinnert er an den inzwischen ausgeschiedenen Kongressabgeordneten Ron Paul, einer Ikone der Libertären; allerdings fehlt ihm dessen Charisma.

Heiße Luft oder echter Stimmungswandel?

Die verlorene Abstimmung ist Amashs bislang größter Triumph, auch wenn über das Washingtoner Insiderportal Politico der republikanische Führungszirkel anonym ätzt, man habe nicht eingegriffen, damit einige Abgeordnete "Dampf ablassen" konnten.

Steckt hinter der Koalition der Unwilligen also nichts als heiße Luft? Eine tragfähige Reform-Mehrheit in beiden Kammern ist derzeit nicht absehbar. Allerdings stellen die Abgeordneten inzwischen einst unantastbare Grundsätze in Frage: Vor einigen Jahren galt ein Votum gegen die Anti-Terror-Gesetze in konservativen Kreisen noch als Verrat.

Ganz so gelassen scheint das Partei-Establishment die Angelegenheit deshalb auch heute doch nicht zu sehen. "Sind zwölf Jahre so schnell vergangen, sind unsere Erinnerungen so stark verblasst, dass wir vergessen haben, was am 11. September passiert ist?", fragte der republikanische Geheimdienstausschuss-Vorsitzenden Mike Rogers in der Debatte. Seine Worte hatten etwas Flehendes.

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