Neue Politik in der EU:Krise als Reformbeschleuniger

Gemeinsame Wirtschaftsregierung, gegenseitige Schuldenhaftung, Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank. Seit dem Ausbruch der Krise hat sich die EU dramatisch verändert. Es geht nun, was sonst nie gegangen wäre - und das meiste wurden gegen den Widerstand Deutschlands durchgesetzt.

Joschka Fischer

Eurokrise als Chance für die europäische Medienöffentlichkeit

Die Krise als Chance: Die Flamme eines Feuerzeuges beleuchtet eine Euro-Münze aus Griechenland

(Foto: dpa)

Der griechische Philosoph Heraklit kam bereits vor mehr als 2500 Jahren zu der Einsicht, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei. Er hätte mit gutem Grund hinzufügen können, dass es sich bei der Krise um die Mutter aller Dinge handelt. Gott sei Dank ist heute der Krieg zwischen den Weltmächten wegen der gegenseitigen thermonuklearen Vernichtungsdrohung keine realistische Option mehr. Diese These gilt allerdings nur für die oberste Etage, nicht jedoch für die Rand- und Bruchzonen der Weltpolitik.

Weltkrisen wie die Weltfinanzkrise seit 2008, als im September die Großbank Lehman Brothers pleiteging, sind durch das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Großmächten keinesfalls Geschichte. Solche Krisen erschüttern ebenfalls den Status quo, ohne allerdings über die destruktive Kraft des Krieges zu verfügen. Die Krise ist immer auch Chance - Chance für Veränderungen, die sonst kaum möglich sind. Der Zwang zur Überwindung der Krise erfordert, Dinge zu tun, die vorher kaum denkbar, geschweige denn machbar gewesen wären. So ergeht es der EU seit nunmehr drei Jahren, seitdem die globale Finanzkrise in Europa eine existenzbedrohende Dimension angenommen hat.

Blickt man auf den Beginn des Jahres 2009 zurück, so haben wir es im Vergleich zu damals mit einer wesentlich anderen EU zu tun: Die EU zerfällt in eine Vorhut jener 17 Mitgliedstaaten, welche die Euro-Gruppe bilden, und eine Nachhut, bestehend aus den zehn EU-Mitgliedern außerhalb der Euro-Gruppe. Dahinter steckt keine böse Absicht, sondern der Druck der Krise. Die Euro-Gruppe muss handeln, soll der Euro überleben. Die anderen stehen dabei mehr oder weniger außen vor.

Die Krise hat alle Tabus fallenlassen

All die Tabus, die seit dem Ausbruch der Krise existierten, die meisten davon auf deutsches Betreiben hin errichtet, sind mittlerweile durch den Krisendruck gebrochen, und zwar am Ende unter tätiger Mithilfe der deutschen Bundesregierung: das Bail-out-Verbot aus dem Europäischen Vertrag, demzufolge jedes Land seine eigenen Banken retten muss; die Ablehnung einer Wirtschaftsregierung; das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB) und das der gegenseitigen Schuldenhaftung - schließlich die Verwandlung der EZB von einer Kopie der alten Bundesbank hin zu einer europäischen Federal Reserve Bank nach angelsächsischem Vorbild. Was noch abgelehnt wird, sind Euro-Bonds, aber auch diese werden kommen. Die einzige Frage ist, ob dies vor oder nach der deutschen Bundestagswahl geschieht. Die Antwort: Das hängt vom weiteren Verlauf der Krise ab.

Deutschland, das wirtschaftlich stärkste Land in Europa, spielt in dieser Krise eine merkwürdige, bisweilen bizarre Rolle. Das Land ist so stark wie nie seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 und faktisch zur Führungsmacht der EU geworden. Gleichwohl ist es zur Führung nicht willens und in der Lage. Gerade deshalb ist ein Großteil der eingetretenen Veränderungen gegen den anhaltenden Widerstand Deutschlands durchgesetzt worden, sodass seiner Regierung am Ende immer nur die Kunst der Kehrtwende blieb. Zudem wird das so starke Deutschland institutionell immer schwächer. Das zeigt sich zum Beispiel am reduzierten Einfluss Deutschlands im Zentralbankrat der EZB.

Man wird sich den 6. September 2012 merken müssen - an jenem Tag fand im Zentralbankrat der EZB in Frankfurt am Main die Beerdigung der alten Bundesbank statt, gegen den Protest ihres aktuellen Präsidenten Jens Weidmann. In jener Sitzung wurde die Möglichkeit eines unbegrenzten Ankaufs von Staatsanleihen der Krisenländer in der Euro-Gruppe gegen eine Gegenstimme beschlossen. Und der Bestatter war keineswegs EZB-Präsident Mario Draghi, sondern Angela Merkel.

Die Bundesbank ist nicht einer finsteren "südlichen" Verschwörung zum Opfer gefallen, sie hat sich selbst verabschiedet. Denn wäre die Euro-Gruppe der Politik der Bundesbank gefolgt, so gäbe es diese heute nicht mehr. Ideologie statt praktische Lösungsansätze - das kann in einer solch tiefen Krise niemals gutgehen.

Die Euro-Gruppe steht gegenwärtig an der Schwelle zu einer Bankenunion. Ihr wird die Fiskalunion folgen, und schon mit der Bankenunion wird der Druck zu einer politischen Union immer größer werden. Vertragsänderungen mit allen 27 (oder mit Kroatien 28) Staaten wird es nicht geben können, nicht nur wegen Großbritannien, sondern auch wegen der dann fälligen Referenden in zahlreichen Mitgliedstaaten. Diese würden gewiss zur Abrechnung mit der Krisenpolitik der nationalen Regierungen werden, und dies wird keine Regierung wollen, solange sie noch bei Verstand ist. Für längere Zeit wird es also nur mit der Hilfsbrücke zwischenstaatlicher Verträge gehen - die Euro-Gruppe wird sich in Richtung eines intergouvermentalen Föderalismus entwickeln. Das wird spannend, denn es werden sich dabei völlig ungeahnte Möglichkeiten für die politische Integration bieten.

Wie sich die Wirtschaftsregierung kontrollieren lässt

Nicolas Sarkozy, einst französischer Präsident, hat sich am Ende doch durchgesetzt: Die Euro-Gruppe wird bereits heute faktisch von einer Wirtschaftsregierung geführt, und zwar von den Staats- und Regierungschefs (und ihren Finanzministern). Diese Entwicklung sollten EU-Föderalisten verstärken. Je mehr die Staats- und Regierungschefs durch die Krisendynamik zur Regierung der Euro-Gruppe werden, desto mehr werden sie ihre bisherige Doppelrolle als Exekutive und Legislative im Europäischen Rat obsolet machen.

Das Europäische Parlament wird das sich abzeichnende Vakuum nicht ausfüllen können, da ihm die Budgetsouveränität fehlt, die bei den nationalen Parlamenten liegt und dort auch für unabsehbare Zeit bleiben wird. Auf diese nationalen Parlamente also kommt es an. Sie bräuchten eine gemeinsame Plattform in der Euro-Gruppe, eine Art "Euro-Kammer", mittels derer sie die europäische Wirtschaftsregierung kontrollieren können.

Die Föderalisten im Europäischen Parlament und in Brüssel allgemein sollten sich dadurch nicht bedroht fühlen, sondern die einmalige Chance nutzen. Nationale und europäische Parlamentarier sollten sich schnell zusammensetzen und ihr Verhältnis klären. So könnte ein Europäisches Parlament mit zwei Kammern entstehen.

Wie gesagt: Diese Krise ist eine große Chance für Europa. Sie hat die Agenda der kommenden Monate und Jahre definiert - Bankenunion, Fiskalunion, politische Union. Was fehlt, ist eine Wachstumsstrategie für die Krisenländer, aber auch diese rückt umso näher, je größer die Unruhe im europäischen Süden wird. Die Europäer haben allen Grund optimistisch zu sein. Nicht trotz, sondern wegen der Krise.

Joschka Fischer, 64, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler - und beinahe 20 Jahre lang führender Politiker der Grünen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: