Nach dem Putschversuch:Wer nicht für den Präsidenten ist, verschanzt sich und schweigt

Nach dem Putschversuch: Szene aus Istanbul nach dem versuchten Militärputsch.

Szene aus Istanbul nach dem versuchten Militärputsch.

(Foto: AP)

In der Türkei herrscht nach dem Putschversuch Angst. Wenige sprechen noch frei und offen - wenn, dann berichten sie von einer "panischen Atmosphäre".

Von Deniz Aykanat und Lars Langenau

Freitagnacht, der Putsch ist in vollem Gange, da erhält Pınar* eine SMS. "Ehrenhaftes türkisches Volk, setz dich für Demokratie und Frieden ein. Geht auf die Straße und erhebt euch gegen einen kleinen Kader, der das türkische Volk niederwerfen will." Es ist eine Aufforderung, sich den Putschisten in den Weg zu stellen. Gezeichnet: Recep Tayyip Erdoğan.

Pınar ist aufgewühlt, als sie davon erzählt, dass in ihrer Wohnung im Istanbuler Stadtteil Cihangir die Fenster vibrierten. Militärjets donnerten im Minutentakt durch die Lüfte in dieser Nacht von Freitag auf Samstag, als Teile des Militärs die türkische Regierung zu stürzen versuchten. Alle Freunde und Verwandten bekamen ebensolche SMS. Seit dem Putschversuch schlängeln sich jede Nacht wild hupende Auto-Korsos durch die Straßen Istanbuls mit Erdoğans Anhängern.

Seit Samstag bis zunächst Mittwoch um Mitternacht sind alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos, damit sich die AKP-Anhänger leichter versammeln können. Obwohl es entgegen der Propaganda nicht Hunderttausende oder Millionen sind, die für die "Demokratie" auf die Straße gehen, sind es doch so viele, dass sie auf den öffentlichen Plätzen unglaublichen Lärm machen können. Sie halten Pınar wach.

Mehr will sie nicht sagen.

Mehr will niemand sagen. Zumindest nicht am Telefon und auch nicht per Mail. Wenn Erdoğan ungefragt SMS sendet, dann zapft der Staat auch Handys an - so die Befürchtung. Tatsächlich arbeiten die Telekommunikationsgesellschaften eng mit der Regierung zusammen. Wenn man sich in der Türkei eine Handykarte kauft, muss man sich offiziell registrieren lassen. Ergo sind alle Nummern und Personen registriert - und die gesammelten Nummern wurden jetzt genutzt: für die SMS von Erdoğan - aber möglicherweise eben auch zum Abhören.

Mehrere Quellen berichten, dass die Polizei inzwischen willkürlich Personen kontrolliert und deren Whatsapp-Nachrichten sowie SMS checkt, dass bei der Ausreise aus der Türkei Laptops auf "verräterische" Chatverläufe überprüft werden. Das klingt alles so unfassbar, dass man inzwischen glauben mag, der Putschversuch sei wirklich der willkommene Brandbeschleuniger zur Gleichschaltung von Justiz, Parlament und Gesellschaft - der "ein Geschenk Gottes" sei, wie Erdoğan noch in der Nacht des Putschversuches sagte.

"Es herrscht eine panische Atmosphäre"

Zunächst schien das Bedürfnis, sich zu äußern, groß. Den Putsch wollte zwar so gut wie keiner in der Türkei. Doch wurde denjenigen, die den Präsidenten nicht unterstützen, schnell klar, welch großes Kapital Erdoğan aus dem gescheiterten Staatsstreich schlagen wird. Seit Erdoğan in den Tagen danach Militär, Verwaltung, Universitäten und Medien unerbittlich von angeblichen Anhängern des Putsches "säubert", wie er es selbst nennt, geht die Angst um. "Es herrscht eine panische Atmosphäre", sagt ein Deutscher, der seit fast 20 Jahren in Istanbul lebt, das "könnt ihr euch in Deutschland überhaupt nicht vorstellen". Auch er will nicht mit Namen genannt werden.

Wenn man sich den Zeitablauf nach dem Putschversuch genau ansehe, werde man skeptisch, ob das nicht alles generalstabsmäßig vorbereitet war, sagt ein Jurist. Er äußert sich nur unter der Zusicherung seiner Anonymität. Putsch, zunächst die Absetzung von Tausenden Richtern, dann die Entlassung von noch mehr Beamten auf anderen Ebenen, darunter vielen Polizisten, dann die Suspendierung von über 15.000 Beamten im Bildungssektor. "Mit welchem Personalaufgebot und aufgrund welcher Aktenlage schafft dies eine ohnehin dezimierte Justiz? Sicherlich nicht aufgrund von 'Erkenntnissen', die mit der Niederschlagung des Putsches gewonnen wurden", sagt er.

Den türkischen Behörden reicht ein kritisches Wort als Beweis, jemanden als Staatsfeind auszumachen. Anders können sich viele die massenhaften Verhaftungen und Entlassungen in den vergangenen Tagen nicht erklären. Am Mittwoch wird bekannt, dass Akademiker aus der Türkei für berufliche Reisen das Land vorerst nicht mehr verlassen dürfen. Auch beklagen kritische Medien Einschränkungen, ein Satireblatt ist massiv in seiner Existenz bedroht. Gülen-nahen Fernseh- und Radiosendern wurde gleich die Sendelizenz entzogen.

Was ist da gerade im Gang? Die Intellektuellen verschanzen sich in ihren Wohnungen. Kein Wort hört man etwa von Prominenten wie dem Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Warum sollten sich dann die anderen an die Öffentlichkeit trauen? Beim Ableger der Friedrich-Ebert-Stiftung in Istanbul ist nur die Sekretärin zu erreichen, die sagt, dass das Büro seit dem Putschversuch quasi geschlossen sei.

Selbst deutsch-türkische Blogger nehmen ihre Blogs offline und möchten sich vorerst auch nicht mehr regierungskritisch äußern. Zu sehr werden sie massiv von Erdoğan-Anhängern angefeindet und zum Teil auch bedroht. Einer Bloggerin etwa wurde mitgeteilt, man werde sie am Flughafen abfangen, falls sie in die Türkei zurückkomme.

"Wir gegen die Anderen"

Unterdessen verwendet Erdoğan unverdrossen Wörter wie "Säuberung", "Metastasen ausmerzen" und "Viren". Gestern benutzte er in seiner Ansprache die Wörter "Grotte" oder "Höhle", in die sich seine Gegner wie Tiere zurückziehen sollen. "Er entmenschlicht damit seine Gegner", sagt eine Akademikerin, die plötzlich ihr Interview mit SZ.de aus Angst zurückzieht. Es gehe bei Erdoğan immer um das eine: "Wir gegen die Anderen."

Soner* aus Istanbul sagt, dass sich die Angst inzwischen überall eingeschlichen hat: "bei laizistischen, liberalen, sozialdemokratischen und sogar bei nationalistisch denkenden Bevölkerungsgruppen". Zwar seien auch sie alle gegen den Putsch, trauen aber zugleich Erdoğan alles zu. Die Menschen in Istanbul "demonstrieren nicht für die Demokratie, sondern für Erdoğan", sagt er. "Menschen, die die Möglichkeit haben auszuwandern, verlassen das Land." Ein anderer Gesprächspartner bestätigt diese Stimmung unter den eher liberal orientierten Türken: "Jeder versucht das Land zu verlassen, selbst in Richtung Nordirak."

Tatsächlich befürchtet Pro Asyl bereits eine Fluchtbewegung aus dem Land. In einem Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte der stellvertretende Pro-Asyl-Geschäftsführer Bernd Mesovic: "Wenn die Lage sich weiter verschlechtert und die Hexenjagd gegen jegliche Opposition in der Türkei weitergeht, dann wird es eine Flüchtlingsbewegung Richtung Europa geben." Dies könne ein Prozess sein, der auch erst in einigen Monaten beginnen könnte. "Wann das sein wird, ist spekulativ. Solange Menschen Hoffnung auf Veränderung haben, bleiben sie in ihrem Land."

*alle Namen von der Redaktion geändert

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