Kolumne:Unwirklich

Emcke, Carolin

Carolin Emcke, 51, ist Autorin und Publizistin. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Fragen in finsteren Zeiten: Warum kann man nicht einfach zurückkehren in eine Zeit, als der Irrwitz noch nicht begonnen hatte?

Von Carolin Emcke

In dem grandiosen Dokumentarfilm "Schlagworte - Schlagbilder" sitzen der tschechische Medientheoretiker Vilém Flusser und der Filmemacher Harun Farocki im Café an einem kleinen, runden Holztisch. Hinter sich ein Fenster zur Straße, vor sich nur ein weißer Aschenbecher und die ausgebreitete Ausgabe der Bild-Zeitung vom 26. November 1985 (die damals noch 60 Pfennig kostete). Das ist auch schon das ganze Programm: Die beiden denken und sprechen zusammen, sie betrachten und analysieren die Zeitung vor sich auf dem Tisch. Jede Zeile, jede Überschrift, jede grafische Setzung, jedes Foto, jede Bildunterschrift wird ruhig und präzise auf seine Absicht und seine Wirkung untersucht. Dabei gestikuliert der eine mit der Pfeife, der andere raucht eine Zigarette. Mehr Handlung gibt es nicht. Allein der unaufgeregte Ton dieses Gesprächs, die Konzentration auf einen einzigen Gegenstand, der gegenseitige Respekt und die Fähigkeit, sich tatsächlich zuzuhören, sind aus heutiger Sicht schon eine Sensation.

Selbst die bösartigste Vision wird wie selbstverständlich dargeboten

Nach etwa acht Minuten, sie sind noch immer bei der Analyse der ersten Seite, sagt Vilém Flusser trocken und in wunderbar eigenwilligem Deutsch, es werde "auf dieser Seite verhütet, dass wir die Dinge entziffern." Farocki und Flusser zeigen, wie Bild Tatsachen und Ereignisse in der Welt nicht übersichtlich in Meldungen und Geschichten sortiert und einordnet, sondern wie vielmehr eine mutwillig rauschhafte Nervosität alles unübersichtlich und chaotisch macht. Die Zeitung bemühe sich nicht, die Wirklichkeit zu beschreiben oder zu erklären, sondern versuche im Gegenteil, das Verständnis der Wirklichkeit zu verhindern. Dabei würden permanent Werte als vermeintlich allgemein geteilte unterstellt, um letztlich vor allem die individuelle Urteilsbildung der Leserinnen und Leser zu unterbinden. "Das sogenannte Wirklichkeits-Niveau", sagt Flusser schließlich, "ist das Niveau zwischenmenschlicher Brutalität."

Je länger dieses Gespräch zwischen Filmemacher und Philosoph andauert, desto unheimlicher wird es, den beiden zuzuschauen. Denn nach einer Weile klingt die Analyse des Mediums Bild-Zeitung aus dem Jahr 1985 erstaunlich zutreffend nach einer Analyse der Wirklichkeit im Jahr 2016. Was damals noch lediglich als Ausdruck eines hemmungslosen Boulevards vorstellbar war, ist inzwischen längst politische Realität. Ob das Referendum über den Brexit, der Anschlag von Nizza, der Ausnahmezustand mit Massenverhaftungen in der Türkei oder der Wahlkampf von Donald Trump in den Vereinigten Staaten - das historische Geschehen in den vergangenen Tagen und Wochen überfordert in seiner rauschhaften Nervosität noch den nüchternsten Nachrichten-Junkie.

Die dramatischen Entwicklungen in der Türkei, die gerade einen Putsch nach dem Putsch erlebt, übersteigen selbst die zynischsten Dramatisierungen eines Zeitungsmachers. Das unwahrscheinlich Brutale ist wahrscheinlich geworden. "Wenn du diese Sorte Sehnsüchte hast", so beschreibt Flusser die suggestive Ansprache der Zeitung an ihre Leser, "schäm dich nicht, es ist das Normale."

Man wagt kaum noch, den Fernseher einzuschalten oder Twitter zu benutzen. Alles wirkt zu schrill, zu irrational, zu wahnwitzig. Vor allem zu schnell. Dauernd drängt es einen, den Verlauf der Geschichte entschleunigen zu wollen. Dauernd möchte man die Gegenwart unterbrechen und zurückkehren an jenen Punkt in der Vergangenheit, an dem man noch meinte, etwas verstanden zu haben. Oder an dem es politisch noch nicht ins Irreale abgedriftet war. Aber wann war das? Wann waren sich denn Kolumnistinnen wie ich sicher, dass es zu einem Brexit kommen könnte? Am Tag des Brexit? Wann ahnte ich denn, dass Erdoğan endlose Listen für die jetzige Hexenjagd anfertigen lassen würde? Am Tag als Zigtausende Richter, Lehrer, Akademiker suspendiert und entlassen wurden? Wann verlor der öffentliche Diskurs in den USA jede Scham und jeden Bezug zur Wirklichkeit? An dem Tag, an dem die Delegierten auf dem Parteitag der Republikaner in Cleveland im Chor forderten, Hillary Clinton ins Gefängnis zu werfen? Allein, dass das Niveau zwischenmenschlicher Brutalität nicht mehr nur die Zuspitzung eines Mediums ist, sondern Tiefpunkt des Niveaus der Wirklichkeit - das ist gewiss.

Dabei verwirrt die Gegenwart nicht dadurch, dass die politischen Akteure ihre Absichten oder Taten zu verbergen suchen, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie noch die menschenverachtendste Maßnahme oder Vision ganz offen darbieten. Das ist eine ganz eigene Form der Demagogie: eine, die sich nicht verstellen will, sondern mit selbstbewusster Boshaftigkeit phrasen- und bildmächtig für sich wirbt. Das macht das passive Zuschauen in Echtzeit so verstörend. Es lässt sich ja nicht behaupten, die Wirklichkeit würde vor einem verborgen. Nicht einmal Gewalt wird verheimlicht. Die malträtierten Körper, die blutigen Gesichter der Verhafteten in der Türkei zu sehen, die im Fernsehen vorgeführt werden als sei das eine zivilisatorische Leistung, Menschen schlagen und verletzen zu können - das ist gespenstisch. Noch gespenstischer sind eigentlich nur die verhaltenen Phrasen europäischer Politikerinnen und Politiker, die sich anscheinend nicht verhalten wollen zu dem Geschehen und so tun, als könnten sie sich nicht dazu verhalten. Eine Art sich-selbst-erfüllende Ohnmacht.

Dabei wäre es der naheliegende Auftrag der zerfransten europäischen Politik, sich der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erinnern und wieder zu einem politischen Subjekt zu werden. Nur gemeinsam lässt sich das zwischenmenschlich Brutale wieder zum Unwahrscheinlichen machen. Nur gemeinsam lässt sich die schrille Logik der Eskalation wieder an den Boulevard delegieren. Das setzt voraus: sich der rauschhaften Nervosität der Tatsachen um uns herum nicht wehrlos zu ergeben. "Die Tatsachen gehören alle zur Aufgabe,", heißt es bei Ludwig Wittgenstein im "Tractatus Logico-Philosophicus", "nicht zur Lösung."

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