Populismus in Europa:Jetzt kommt die Chance auf eine neue Zäsur

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Schüler und Studenten demonstrieren im Februar in Rom gegen die italienische Regierung. Die Plakate zeigen Innenminister Matteo Salvini mit dem Schriftzug "Fehlgeschlagen". (Foto: dpa)

So viele Regierungen wie nie in Europa haben den Nektar Populismus löffelweise in sich hineingestopft. Sie sehen plötzlich, dass der Saft schwer verdaulich ist. Etliche von ihnen müssen bald vor die Wähler treten.

Kommentar von Stefan Kornelius

Wenn es einen Schlüsselmoment gegeben hat für die populistische Explosion als beherrschendes politisches Phänomen dieser Zeit, dann war es der Sommer 2016. Damals haben die Briten nach einer Kampagne der Lügen und Gaukeleien für ihren Austritt aus der EU gestimmt, und in den USA wurde Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei nominiert.

Ein paar Monate davor hatte in Polen die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) mit Hilfe von teuren Wahlgeschenken und billigen Versprechungen die Macht errungen und belegt, dass der Urvater des modernen europäischen Nationalpopulismus, Viktor Orbán, kein spezielles ungarisches Phänomen darstellen muss.

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Drei Jahre später ist die Chance auf eine neue Zäsur gekommen. In diesem Herbst wird eine bemerkenswert hohe Zahl der Europäer eine Entscheidung fällen können, ob sie in dieser Politik ihre Zukunft sieht - oder eben nicht.

Eine Verkettung von Regierungsbrüchen und Koalitionsmiseren beschert Europa eine außergewöhnliche Wahlserie: Österreicher, Polen, mutmaßlich die Briten und die Italiener werden zu den Urnen gerufen, eine Neuwahl könnte auch den Spaniern blühen, und selbst die Rumänen haben bis spätestens Dezember Gelegenheit, ihr Urteil über Nationalismus und Misswirtschaft abzugeben. Wem das als Populismus-Barometer noch nicht reicht, der schaut im September nach Israel und im Oktober auf die Schweiz.

Die moderate Mitte hat eine Chance auf die Machtübernahme

All diese Wahlen verbindet, dass hier Regierungsmodelle zur Beurteilung anstehen, die den Nektar Populismus löffelweise in sich hineingestopft haben und nun feststellen, dass der Saft schwer verdaulich ist. In Italien hat sich das populistisch-nationalistische Modell in seiner Schrillheit selbst überboten. Sollte sich die moderate Mitte sammeln und eine glaubwürdige Alternative aufbieten, hat sie durchaus eine Chance auf die Machtübernahme.

In Großbritannien leidet das System unter extremistischen Führungsfiguren in beiden Lagern. Die pragmatische Mitte ist klar in der Mehrheit, aber nicht an der Macht. In Polen häufen sich die Proteste gegen die Regierung, deren Kulturkampf das Land bis zum Zerreißen unter Spannung setzt.

Auch wenn der Wahlherbst auf den ersten Blick Unsicherheit schafft und neue Instabilität verspricht, könnte sich ein Moment der Läuterung entwickeln. Die Wahl zum Europaparlament in diesem Frühjahr hat einen guten Vorgeschmack darauf gegeben, wie eine alarmierte und kampfbereite Öffentlichkeit mobilisiert werden kann.

Die Zahl populistischer und antieuropäischer Kräfte ist entgegen aller Prognosen nicht gewachsen. Gestiegen ist hingegen die Wahlbeteiligung und damit die Bereitschaft, für moderate Politik und die Regeln der klassischen Demokratie einzustehen. Dies ist der Vorteil des Populismus: Er schärft den Blick bei der Wahlentscheidung und kann Kräfte bündeln, die sonst nicht zusammenfinden.

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Für Europa kämen diese Signale der Mäßigung keine Sekunde zu spät. Die neue Kommission nimmt ihre Arbeit auf, und die Mitgliedsstaaten müssen sich schnell auf eine Finanzplanung einigen, damit die politische Energie für die wirklich brennenden Probleme aufgewendet werden kann: eine in sich schlüssige europäische Klima- und Energiepolitik, ein Gegenmodell zur amerikanischen Linie in der Handels- und Wachstumspolitik und ein eigenes Selbstbewusstsein in der Außen- und Sicherheitspolitik, die Europa angesichts der chinesisch-amerikanischen Konfrontation vordringlich aufbauen muss.

Es zeugt von der Kleinmütigkeit der deutschen Politik, dass sie diese Chance nicht sieht, sondern vielmehr zum eigentlichen Problem dieses Wahlherbstes zu werden droht. Der Schwelbrand im Maschinenraum der schwarz-roten Koalition, die Verzagtheit im ostdeutschen Landtagswahlkampf gegenüber der Rassisten-Truppe von der AfD, die Verantwortungsscheu der SPD und die Energielosigkeit der Union können sich schnell zum größten Menetekel für Europa verdichten und die Wahlsaison unangenehm bereichern.

Deutschlands Nachbarn sorgen sich vor der Kleingeistigkeit Berlins

In der deutschen Innenpolitik wird gerne unterschätzt, welch stabilisierende Funktion dieses Land für seine Nachbarn erfüllt, welche Bedeutung Wachstum und Sicherheit in Deutschland für den ganzen Kontinent haben - und wie im Umkehrschluss das leiseste Beben in Berlin einen Tremor im letzten Winkel des Kontinents auslösen kann.

So wie Amerikas globale Unberechenbarkeit in Deutschland viel stärker wahrgenommen und gefürchtet wird als etwa in Kentucky, so sorgen sich Deutschlands Nachbarn vor der Introvertiertheit und Kleingeistigkeit im politischen Betrieb in Berlin. Was dieses Europa in seinem Wahlherbst also am wenigsten gebrauchen kann, ist ein unplanmäßiger Regierungsbruch in Deutschland. Verantwortung für Europas Mitte muss in Deutschland vorgelebt werden.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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