NSU-Prozess:"Der Rechtsstaat hat in Deutschland Löcher"

Abdulkerim Şimşeks Vater war das erste Opfer des NSU. Heute ist er Nebenkläger im Münchner Prozess. Im Gespräch macht er den Ermittlern schwere Vorwürfe und erklärt, warum er jetzt die Bundesrepublik verklagt.

Interview von Oliver Das Gupta

Enver Şimşek war das erste Mordopfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Am 11. September 2000 erschoss die rechtsextreme Terrorbande den Blumenhändler in Nürnberg. Şimşeks Sohn Abdulkerim war damals 13 Jahre alt, heute ist er Nebenkläger im Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe und mutmaßliche NSU-Helfer. Im SZ-Gespräch erzählt Şimşek, wie drastisch sich der Mord an seinem Vater auf die Familie ausgewirkt hat. Den Ermittlern wirft er vor, die Verbrechen der Neonazi-Gruppe nur oberflächlich aufgeklärt zu haben.

SZ: Herr Şimşek, in wenigen Stunden fallen die Urteile im NSU-Prozess. Sind Sie froh, dass es nach fünf Jahren heute vorbei ist?

Abdulkerim Şimşek: Auf der einen Seite ist dieser Tag für mich und meine Familie eine große Erleichterung. Ich habe am Anfang nicht gedacht, dass uns das so mitnimmt. Inzwischen sind wir total fertig. Natürlich fände ich es positiv, wenn die Angeklagten die Höchststrafe bekommen. Es ist mir auch sehr wichtig gewesen, dass die Polizei im Gericht erklärte, dass mein Vater unschuldig gewesen ist. Auf der anderen Seite bin ich sehr enttäuscht vom Prozess.

Warum?

Es gibt immer noch keine Antworten auf die Fragen, die für meine Familie am Wichtigsten sind. Wir wollen die genauen Umstände der Ermordung meines Vaters erfahren: Warum wurde gerade er Opfer? Wie sind die Täter vorgegangen? Und wer sind die anderen Helfer des NSU?

Neben der Hauptangeklagten Beate Zschäpe waren vier weitere mutmaßliche Komplizen angeklagt. Sie meinen, dass die Neonazi-Gruppe noch größer war?

Da bin ich mir ganz sicher. Der NSU hat in Nürnberg meinen Vater und zwei andere Männer ermordet. Irgendjemand mit Ortskenntnissen hat alle Opfer ausgekundschaftet. Man fand einen Zettel mit Informationen für die Täter. Dieser Kundschafter und andere NSU-Helfer laufen hier noch frei herum. Das macht mir sehr zu schaffen.

Meinen Sie, der Prozess hätte noch länger dauern sollen?

Nein, aber die Ermittler und auch das Gericht hätten anders vorgehen müssen. Es wurde nur oberflächlich aufgeklärt. Ich bin wirklich sauer und traurig, wie das abgelaufen ist. Jedes Mal, wenn wir Nebenkläger Fragen zum Netzwerk stellten, hat das Gericht abgeblockt. Außerdem wurden viele Akten vernichtet, in denen wertvolle Informationen standen.

Andere Akten sind noch gesperrt.

Ja, wegen "Geheimhaltung im Interesse des Staates". Ich finde, es wäre im großen Interesse des Staates, die Morde und Anschläge des NSU wirklich aufzuklären und eigene Fehler offenzulegen. Denken Sie an die V-Leute, über die viel Geld in die rechte Szene geflossen ist. Der Rechtsstaat hat in Deutschland Löcher. Wenn der Verfassungsschutz von Beginn an ernsthaft gearbeitet hätte, wären die drei NSU-Mitglieder frühzeitig festgenommen worden. Dann würde mein Vater noch leben.

Als er im September 2000 ermordet wurde, waren Sie 13 Jahre alt. Stimmt es, dass man Ihnen zuerst erzählte, Ihr Vater habe einen Unfall gehabt?

Ja. Ich war damals auf einem Internat in Saarbrücken, dort hat mich ein Lehrer früh morgens geweckt und mir gesagt, mein Vater liege verletzt im Krankenhaus. Dann haben sie mich alleine in den Zug nach Nürnberg gesetzt. Mein Onkel hat mich vom Bahnhof abgeholt und meinte, mein Vater habe einen "kleinen Unfall" gehabt.

Haben Sie geahnt, dass es schlimmer ist?

Ja, erst recht, als ich im Krankenhaus meine weinende Mutter getroffen habe. Noch immer hat mir niemand die Wahrheit gesagt. Es hieß dann, mein Vater habe eine Schlägerei gehabt und läge auf der Intensivstation. Nach ein paar Stunden durfte ich dann mit meiner Mutter und meiner Schwester zu ihm. Ich habe ihn liegen sehen mit acht Einschusswunden. Es war der schlimmste Tag meines Lebens.

Ihr Vater starb zwei Tage später, ohne sein Bewusstsein wieder erlangt zu haben.

Danach begann eine Zeit mit großen Problemen für uns. Mein Vater war ja selbständiger Blumengroßhändler, er war derjenige, der das Geld verdient hat. Als er weg war, kamen wir sehr schnell in finanzielle Nöte. Das Allerschlimmste waren aber die Verdächtigungen.

Die Polizei glaubte zunächst, Ihr Vater sei in kriminelle Machenschaften verstrickt und daher ermordet worden.

Nichts davon hat gestimmt! Die Ermittler haben meiner Mutter das Foto von einer blonden Frau gezeigt und behauptet, das sei seine Geliebte, mit der er sogar Kinder habe. Meine Mutter war geschockt und hat ein Foto meines Vaters zerrissen. Dann hat sie sich nach der erfundenen Geliebten und den angeblichen Kindern erkundigt, weil sie mit ihr gemeinsam um meinen Vater trauern wollte. Erst dann kam raus, dass die Polizei meine Mutter nur testen wollte. Wie wir inzwischen wissen, wurden wir sogar abgehört. Das war alles sehr belastend für uns als Familie. Elf Jahre habe ich versucht, geheim zu halten, dass mein Vater erschossen wurde.

Im November 2011 flog der NSU auf. Damals wurde klar, dass die rechtsextreme Terrorzelle Ihren Vater und neun andere Menschen ermordet hat. Inwiefern hat der Staat Ihnen anschließend geholfen?

Wir haben - wie die anderen Opferangehörigen - 5000 Euro bekommen, das war es. So viel ist dem Staat es wert, dass Polizei und Verfassungsschutz versagt haben. Aber er gibt es nicht wirklich zu. Darum verklagen wir jetzt die Bundesrepublik, den Freistaat Bayern und das Bundesland Thüringen. Dabei geht es mir nicht ums Geld, es geht um Gerechtigkeit. Indem der Staat die Aufklärung verhindert, schützt er die Helfer der NSU-Mörder. Das ist wirklich schlimm.

Sie haben bei Ihrem Plädoyer vor Gericht gesagt, dass Sie die Angeklagten keines Blickes würdigen.

Ja, außer Carsten Schultze, denn der bereut glaubhaft seine Mittäterschaft und hat mit seinen Aussagen bei der Aufklärung geholfen.

Und wenn heute das Urteil fällt, sehen Sie dann nicht rüber zu Beate Zschäpe?

Vielleicht mache ich das. Aber danach will ich dieses Kapitel abschließen. Dieser Prozess hat mich so viel Zeit und Kraft gekostet. Ich möchte mich zurückziehen und mich um meine Familie kümmern. Meine kleine Tochter ist vor ein paar Tagen drei Jahre alt geworden. Sie soll mehr Zeit mit ihrem Papa haben.

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