INF-Abrüstungsvertrag:"Wir Europäer sind sehr verwundbar"

FILE PHOTO OF FORMER US PRESIDENT REAGAN WITH FORMER SOVIET LEADER GORBACHEV AT THE WHITE HOUSE

8. Dezember 1987: Ronald Reagan und Michail Gorbatschow unterzeichnen den INF-Vertrag im Weißen Haus.

(Foto: Dennis Paquin/REUTERS)

Nach Auslaufen des INF-Vertrags erklärt Sicherheitsexperte Christian Mölling, wie die Nato nun reagieren muss und warum Deutschland in der internationalen Debatte wie ein Geisterfahrer wirkt.

Interview von Matthias Kolb, Brüssel

Dass sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1987 auf den INF-Vertrag einigen konnten, war ein historisches Ereignis: Die USA und die Sowjetunion vereinbarten, mit Mittelstreckenraketen eine komplette Waffengattung abzuschaffen. Seither war beiden Seiten der Besitz und die Entwicklung von landgestützten Raketen und Marschflugkörpern mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern verboten - ob die Sprengköpfe atomar oder konventionell bestückt sind, spielt keine Rolle. Nutznießer des Abrüstungsvertrags war vor allem Europa - und für die Sicherheit auf dem Kontinent wird sich viel ändern, wenn das Abkommen am heutigen Freitag ausläuft, wovon nicht nur bei der Nato alle ausgehen.

Die USA werfen Russland seit 2013 vor, mit dem Marschflugkörper 9M729 den Vertrag zu brechen. Deutschland teilt wie alle anderen 27 Nato-Partner der USA die Einschätzung, dass Moskau bereits mehr als 60 Raketen stationiert hat und trotz aller Appelle nicht bereit ist, sie zu zerstören. Für Christian Mölling ist das Ende des INF-Vertrags folgerichtig: Dessen Schutzwirkung existiere seit Langem nicht mehr. Im SZ-Interview erklärt der Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), wie die Nato nun reagieren sollte und warum auf Deutschland als Logistik-Drehscheibe der Allianz eine große Aufgabe wartet. Die Politiker in Berlin sollten zudem erkennen, dass nicht Deutschland die neue Weltordnung präge, sondern andere Akteure, die erfolgreich militärische Macht dafür nutzen.

SZ: Am Freitag läuft der INF-Vertrag zwischen den USA und Russland aus, der atomwaffenfähige Mittelstreckenraketen verboten hat. Welche Folgen hat dies?

Christian Mölling: Ganz nüchtern muss man sagen, dass sich an der aktuellen Sicherheitslage zunächst mal nichts ändert - die hat sich schon viel früher verschlechtert. Der Vertrag ist von Washington gekündigt worden, weil Russland schon seit Jahren Mittelstreckenraketen aufgebaut und damit gegen den INF-Vertrag verstoßen hat. Die entscheidende Frage ist nun, ob sich die Amerikaner und ihre europäischen Partner entscheiden, konventionell oder sogar nuklear aufzurüsten, um Möglichkeiten zu schaffen, das russische Drohpotenzial zu minimieren. Alle haben nun Angst vor einem Rüstungswettlauf, aber es ist wichtig festzuhalten: Russland/Putin hat schon lange vor der Verletzung des INF-Vertrages sein Nuklearwaffenarsenal aufgefächert; unter der Reichweite von 500 Kilometern zu Wasser und in der Luft. Hier war Rüstung erlaubt. Dieses gesamte Bedrohungsspektrum kann die Nato gerade nicht neutralisieren. Wir Europäer sind sehr verwundbar.

Durch das russische Aufrüsten hat sich Europas Sicherheitslage also seit Jahren verschlechtert. Die USA sind hingegen nicht direkt bedroht von den neuen Raketen.

Das ist der zweite Aspekt, den man neben der militärischen Bedrohung, berücksichtigen muss: Moskau hat es so geschafft, dass es in der Nato plötzlich zwei Zonen von Sicherheit gibt. Es besteht die Gefahr, dass die Sicherheit Europas von jener der USA abgekoppelt wird. Denn die russischen 9M729-Marschflugkörper können bis auf Lissabon alle europäischen Hauptstädte innerhalb weniger Minuten treffen, aber sie erreichen nicht das US-amerikanische Festland. Das wirft die Frage auf, ob Washington im Fall einer nur auf Europa begrenzten Krise solidarisch sein wird, wenn dies bedeuten würde, einen nuklearen Gegenschlag durchzuführen. Diese potenzielle politische Spaltung war seit Langem ein geostrategisches Hauptziel Russlands.

Ist Moskaus Verstoß gegen den INF wirklich erwiesen?

Es gibt keine Smoking Gun, aber ich sehe es eher in Analogie zu einem Gerichtsfall. Sie können entweder die Tat beobachtet haben oder zeigen, dass die Indizien nur einen Schluss zulassen. Im Falle des Verstoßes gegen den INF-Vertrags sind die Indizien und Beweise so erdrückend, dass kein Experte mehr daran zweifelt und Moskau die Existenz der Marschflugkörper nicht einmal mehr ernsthaft dementiert. Zudem: Wenn die Bundesregierung und Außenminister Heiko Maas, der nun dezidiert kein Freund von Herrn Trump ist, sich die US-Position zu eigen machen, dann wurden die Vorwürfe unabhängig überprüft. Wer gerade nach den Erfahrungen des Jahres 2003 und dem Irakkrieg der Bundesregierung unterstellt, in eine solche Falle hineinzutappen, attestiert ihr komplette Inkompetenz. Man sollte die Kirche im Dorf lassen und akzeptieren, dass Regierungen einen Ermessensspielraum haben, bei welchen Informationen sie verantworten können, sie öffentlich zu machen und bei welchen nicht.

Fest steht also, dass Russland sein Arsenal an nuklearfähigen Mittelstreckenraketen massiv aufrüstet. Für welche Szenarien sind diese Milliarden-Investitionen sinnvoll?

Sie sind gut geeignet für Szenarien in Friedens- und Krisenzeiten, und nicht so sehr für einen echten Krieg. Ich glaube, Moskau fürchtet genau wie die Nato einen nuklearen Schlagabtausch. Mit diesen neuen Waffen erreicht es aber ein politisches Erpressungspotenzial, noch bevor es zum Krieg kommt. Sie können anderen mit einem nuklearen Schlag drohen, und darin liegt auch das Spaltungspotenzial. Es gibt wie schon erwähnt nun diese beiden zwei verschiedenen Zonen von Sicherheit in der Nato. Zudem ist Moskau sehr geschickt darin, auch in anderen Bereichen viele kleine Keile in die europäische Geschlossenheit zu rammen. Putin schafft Abhängigkeiten durch Lieferung von Gas und Öl oder die Vergabe von Krediten. So lähmt Russland die Allianz, denn nichts nützt dem Kreml mehr als eine öffentliche Unsicherheit, ob die Nato-Mitglieder noch geeint und solidarisch sind. Dass nicht nur in Fachkreisen diskutiert wird, wie die Nato auf einen Angriff auf das Baltikum oder die Schwarzmeer-Region reagieren müsste, ist in Moskaus Sinne.

Kommt das Ende des INF-Abkommens der US-Regierung wirklich ungelegen? Was bedeutet das Ende des INF für den wichtigen "New Start"-Vertrag über strategische Atomwaffen, der bis Anfang 2021 verlängert werden muss?

Wenn der INF-Vertrag nun nicht mehr existiert, dann entbindet das die Hände der US-Regierung, das kommt nicht ungelegen. Andere Staaten wie China verfügen nun auch über sehr viele Mittelstreckenraketen. Die USA haben klargemacht, dass sie Verträge nicht um jeden Preis erhalten werden. Nun kann die Trump-Regierung auch anders auftreten bei den Gesprächen über "New Start", wo es bisher noch keinen Verstoß der russischen Seite gibt. New Start betrifft primär die Sicherheit der USA und Russlands - nicht die der Nato-Staaten. Eine Einigung bei Start bei gleichzeitig wachsender Instabilität in Europa würde die Spaltung der Nato in zwei sicherheitspolitische Räume weiter befördern. Wie man hört, ist Moskau momentan offener für eine Verlängerung als Washington, aber die Gespräche laufen noch.

Die Nato war nicht INF-Vertragspartner, aber die russischen Marschflugkörper können bis auf Lissabon alle europäischen Hauptstädte treffen. Was sollte die Nato jetzt tun?

Das Bündnis sollte im konventionellen Bereich reagieren. Das bedeutet einerseits, es durch bessere Luftabwehr zu ermöglichen, die russischen Raketen zu neutralisieren. Das wird nicht immer klappen, denn die 9M729-Marschflugkörper sind schwer zu lokalisieren. Andererseits braucht es wohl eine Offensivkomponente: also eine Rakete, die russische Kommandozentralen treffen kann. Weil sowohl die neue 9M729 als auch Russlands seegestützte Raketen die entsprechenden Versorgungswege abschneiden können, wird die Nato zudem ihre Anstrengungen erhöhen, um Verstärkungstruppen nach Polen und ins Baltikum zu bringen. Deutschland und seine Seehäfen werden hierfür die Logistik-Drehscheibe sein. Da Versorgungseinheiten wichtige Angriffsziele sind, müssen Bremerhaven und andere Standorte mit Luftabwehr geschützt werden. Deutschland hat sich vor Jahren angeboten, der Hauptumschlagspunkt für Verstärkungskräfte zu sein, weil man zu Zeiten des Afghanistan-Kriegs dachte, Logistik sei ungefährlich. Das war ein Trugschluss.

Christian Mölling

Christian Mölling, Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)

(Foto: oH)

Wie beurteilen Sie die Debatte in Deutschland über das Thema INF? Ist den Politikern bewusst, wie stark sich die Sicherheitslage bereits verändert hat?

Die Diskussion hierzulande ist bestimmt durch die Trauer über das Ende des INF-Abkommens. Damit wischt man die Tatsache weg, dass es seit Jahren Makulatur war. Es ist mir rätselhaft, warum man einen Vertrag bewahren soll, der die Sicherheitsleistung nicht mehr erbringt. Dass die Debatte hier stehenbleibt, ist traurig, denn so wird die Öffentlichkeit nicht darauf vorbereitet, wie die Welt schon heute aussieht - auch mit INF-Vertrag: mehr Staaten besitzen mehr Nuklearwaffen und darauf haben wir bisher keine Antwort gefunden, auch nicht durch Rufe nach mehr Rüstungskontrolle. Das muss man auch klar sagen: Rüstungskontrolle kann man nicht allein durchführen, es braucht die gute Intention der Partner und die Russen sind momentan kein geeigneter Partner.

Berlin wird mehr leisten müssen, um sich und seine Partner zu schützen. Reichen 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für den Verteidigungsetat oder müssen es zwei Prozent sein?

In der deutschen Diskussion existiert die Verbindung zwischen militärischer Bedrohung und dem Aufbau der Streitkräfte kaum mehr. Das Zwei-Prozent-Ziel, auf das sich alle Nato-Partner 2014 verpflichtet haben, wird nur mit Trump verbunden, was faktisch falsch ist. So lässt sich aber bequem vermeiden, über wesentlichen Frage zu sprechen: Welche Antwort ist nötig auf welche militärischen Bedrohungen? Wer objektiv Russlands Taten analysiert, der sieht, dass dessen Aufrüstung keine Reaktion auf Sanktionen ist. Was mir auch fehlt, ist Folgendes: Viele Politiker betonen, dass das Zwei-Prozent-Ziel nicht machbar sei. Aber zwischen dieser Marke und sicherheitspolitischer Trittbettfahrerei gibt es viel Raum. Ich hätte gerne eine Zusage, dass Deutschland effektiv militärisch geschützt ist und seinen solidarischen Beitrag in der Nato leistet. Es ist die Aufgabe der Verteidigungsministerin, das auszurechnen. Und der Finanzminister sollte dies dann bereitstellen - es sei denn, die Regierung hat am Überleben Deutschlands und Europas kein wesentliches Interesse.

Ein Wettrüsten scheint unvermeidbar. Trotz aller Bemühungen von Außenminister Maas hat China kein Interesse an neuen Abrüstungsverträgen. Warum lässt sich Peking nicht überzeugen?

China sieht in einem großen, starken Militär ein erhebliches politisches Handlungspotenzial, das belegt die neue Militärstrategie von Präsident Xi Jinping. Deutschland ist der Außenseiter in der Wahrnehmung, dass militärische Mittel politisch nicht mehr relevant seien. Deutschland ist der Geisterfahrer, der sich wundert, dass ihm Dutzende Autos entgegenkommen. Hierzulande denkt man, dass nur wir und vielleicht die Schweiz verstanden haben, was los ist - und dass die anderen 193 Staaten falsch liegen. Tatsächlich aber gestaltet nicht Deutschland die neue Weltordnung, sondern andere, und sie nutzen erfolgreich militärische Macht als Teil dessen. Darauf hat Berlin noch keine effektive Antwort gefunden.

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