Proteste:Kampf um Hongkong

Proteste in Hongkong

Demonstranten heben ihre Hände, nachdem die Polizei Tränengas eingestezt hat.

(Foto: dpa)
  • Zehntausenden Menschen, die am Mittwoch in Hongkong gegen das umstrittene Auslieferungsabkommen demonstriert haben. Tausende blockierten das Hongkonger Parlament, den Regierungskomplex und umliegende Straßen, um gegen das Gesetz zu protestieren.
  • Für Peking sind die Proteste in seiner Sonderverwaltungszone ein Debakel.

Reportage von Lea Deuber, Hongkong

Als sich Rachel auf den Mauervorsprung fallen lässt, zieht die Polizei gerade ihre Einheiten zusammen. Das Blaulicht der Einsatzwagen erleuchtet den Straßenzug. "Sie umzingeln uns", sagt Rachel und blickt dabei kaum auf. Hinter ihr rennt ein Vermummter mit einem Mikrofon in Richtung der Straßensperre, um andere zu warnen. "Macht euch bereit", ruft er. Die Studentin bleibt sitzen. Es ist weit nach ein Uhr nachts. Rachel ist erschöpft.

Die junge Hongkongerin war unter den Zehntausenden Menschen, die am Mittwoch in Hongkong gegen das umstrittene Auslieferungsabkommen demonstriert haben. Tausende blockierten das Hongkonger Parlament, den Regierungskomplex und umliegende Straßen, um gegen das Gesetz zu protestieren. Es würde Hongkongs Behörden erlauben, seine Bürger auch an Festlandchina auszuliefern, wo es kein unabhängiges Rechtssystem gibt. Die Bilder der Krawalle haben die chinesische Sonderverwaltungszone binnen Stunden in den Fokus der Weltöffentlichkeit katapultiert.

Für Peking sind die Proteste in seiner Sonderverwaltungszone ein Debakel. Die Regierung steht bereits durch den Handelsstreit mit den USA massiv unter Druck. Dieser Streit belastet die heimische Wirtschaft. Eine Einigung scheint nicht in Sicht zu sein. Im März reiste Präsident Xi Jinping nach Europa, um für ein chinesisch-europäisches Bündnis im Umgang mit den USA zu werben. Die Angriffe auf den Telekommunikationsausrüster Huawei bügelte es zuletzt zunehmend erfolgreich als unfairen Protektionismus der Amerikaner ab. Peking gibt sich gerne als ein fairer und rationaler Spieler. Aber auch, wenn es Hongkonger Einsatzkräfte sind, die in diesen Tagen durch die Stadt marschieren - hinter den prügelnden Polizisten werden viele Pekings hässliche Fratze sehen. Das chinesische System, das global seinen Einfluss ausweitet, das demokratische Systeme unterwandert und Zivilgesellschaften wie in Hongkong zermalmt, um seine eigene Macht zu sichern.

Am Donnerstag erklärte der chinesische Botschafter in London, dass allein die Hongkonger Regierung hinter der umstritten Gesetzesinitiative gestanden haben. Peking scheint aufgrund des internationalen Drucks nun sogar bereit zu sein, die eigens eingesetzte Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam abzusägen, um Schlimmeres zu verhindern.

Vor der Übergabe der ehemaligen Kronkolonie sicherte China der Stadt nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" für 50 Jahre weitreichende rechtsstaatliche Freiheiten zu. Menschen wie die Demonstrantin Rachel fürchten, dass es damit endgültig vorbei sein könnte, wenn sich die Regierung mit dem Auslieferungsabkommen durchsetzt. Kein Aktivist, kein Journalist, kein Anwalt wäre dann mehr sicher, sagen die Kritiker.

Rachel studiert an der Hongkonger Universität. Sie trägt eine Maske, um ihren Hals baumelt eine Schutzbrille gegen das Tränengas. Ihren richtigen Namen will sie aus Angst nicht veröffentlicht wissen. Hongkong ist nach der prodemokratischen Protestbewegung vor fünf Jahren hart gegen Aktivisten vorgegangen. Viele Beteiligte von damals wurden zu Haftstrafen verurteilt. Das könnte nun auch ihr drohen, wenn sie von der Polizei aufgegriffen wird. Gekommen ist sie trotzdem.

Es scheint, als wäre etwas aus dem Gleichgewicht geraten in Hongkong, das einst als Hort der Freiheit galt. Unter den Briten war die ehemalige Kronkolonie zwar auch nur teildemokratisch. London garantierte aber entscheidende rechtsstaatliche Freiheiten, um den Handel in der Hafenstadt zu sichern. Nach der Übergabe 1997 machte Peking zumindest offiziell mit einem ähnlichen Deal weiter. Mindestens bis 2047 sollte die Stadt ihren Sonderstatus behalten. Die Hongkonger akzeptierten damit einerseits, als Teil Chinas betrachtet zu werden. Gleichzeitig profitierte die Finanzmetropole vom wachsenden chinesischen Markt und dem Image als Tor zu Festlandchina. Der Deal hatte von Anfang an Vor- und Nachteile.

"Die Regierung verhindert Widerstand"

Wann die Vorteile für viele Hongkonger aufhörten zu überwiegen, ist schwer zu sagen. Vielleicht fing es 2015 an, als die chinesische Regierung einen schwedischen Verleger aus Thailand entführen ließ. Vor seinem Verschwinden hatte er einen Verlag in Hongkong geleitet, in dem chinakritische Bücher erschienen. Später tauchte er in Festlandchina auf, wo er im Staatsfernsehen ein erzwungenes Geständnis ablegte - bevor er wieder verschwand. Vielleicht begann es vor Monaten, als Hongkongs Regierung das Visum eines britischen Korrespondenten nicht mehr verlängerte, der eine Diskussionsveranstaltung mit dem Vertreter einer Splitterpartei organisierte, die sich für die Unabhängigkeit Hongkongs einsetzt. Die Presse in Hongkong steht seit langem unter Druck. Viele Zeitungen sind von prochinesischen Unternehmern aufgekauft worden. Freie Medien werden gegängelt und bedroht. Die De-facto-Ausweisung des Briten war trotzdem ein Novum.

Vielleicht war es aber auch erst am vergangenen Sonntag, als eine Million Menschen auf die Straße gingen, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Und ihre Regierungschefin sie erneut übergehen wollte - eine Million Menschen, jeden siebten Bürger der Stadt. Sicher ist: Als die Studenten 2014 für Wochen die Innenstadt Hongkongs blockierten, ging es ihnen um den Status quo, um mehr demokratische Mitbestimmung, um freie Wahlen. Das ist dieses Mal anders.

Studenten wie Rachel geht es nicht um neue Freiheiten - sie wollen Hongkong retten. Und damit meinen sie, was davon noch übrig ist. Festlandchina mit seinen Überwachungskameras und der Internetzensur ist für sie ein fremder, ein toxischer Ort, der schleichend ihre Stadt vergiftet. "In China verhindert die Regierung Widerstand, noch bevor er in den Köpfen der Menschen entstehen kann", sagt sie mit Abscheu in der Stimme. Niemals solle Hongkong, ihre Heimat, so werden. Selbst wenn es dafür Gewalt bräuchte, sagt die junge Hongkongerin in dieser Nacht: "Wir kämpfen, solange wir können."

Als sie am Mittwochmorgen mit Kommilitonen zu den Demonstranten aufbrach, ahnte sie nicht, was sie in den nächsten Stunden erleben würde. Sie trug nur Jeans und ein Shirt, als würde sie zu einer Vorlesung gehen. Die Schutzkleidung hat sie von Freiwilligen geschenkt bekommen, als die Tumulte ausbrachen. Der Hongkonger Kommissar Stephen Lo wird am nächsten Morgen bei einer Pressekonferenz erklären, dass die Polizisten zu einem gewissen Zeitpunkt keine andere Wahl mehr gehabt hätten, als zu eskalieren: "Das Verhalten der gewalttätigen Protestierenden stellte eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Ordnung dar", sagt er.

150 Tränengaspatronen, Gummigeschosse und sogenannte Beanbags, eine Schrotmunition, die den Getroffenen nicht töten soll, schoss die Polizei auf die Demonstranten. Ein Team von Sanitätern, das in der Nacht zu Donnerstag in der Nähe des Regierungsviertels unterwegs ist, berichtet von schweren Verletzungen. Sie haben sich mit Klebeband ein rotes Kreuz auf den Arm geklebt und halten nach Demonstranten Ausschau, die Hilfe brauchen.

Einer der jungen Sanitäter weint. "Ich bin so enttäuscht von dem, was heute passiert ist", sagt er. In einem improvisierten Lager haben sie unter Regenschirmen Nachschub gestapelt: Mullbinden, Kochsalzlösungen, Wasser. Sie haben den Tag über Demonstranten versorgt, die durch das Gas kurzzeitig erblindet waren, sich Schürfwunden oder Gehirnerschütterungen zugezogen haben. Viele der Protestierenden haben Schocks erlitten - mitten im Viertel Admiralty. Dort, wo sonst Banker arbeiten und Stars beim Shoppen abgelichtet werden. Unter den Demonstranten sind auch viele Schüler.

Selbst ihre Partei warnt die Regierungschefin davor, an dem Abkommen festzuhalten

Teilweise Kinder, 14 und 15 Jahre alt. Drei Tage nach den schweren Krawallen versuchen die Menschen in der Stadt immer noch zu verstehen, was passiert ist. Die Zahl der Verletzten ist seit Mittwoch auf mindestens 81 Menschen gestiegen, 22 davon Polizisten. Es war das erste Mal seit der prodemokratischen Proteste der Regenschirmbewegung vor fünf Jahren, dass die Hongkonger Polizei Tränengas einsetzte. Der Hongkong-Direktor von Amnesty International, Man-Kei Tam, verurteilte den Einsatz der Munition gegen friedliche Demonstranten. Die Menschenrechtsgruppe warnte, das Vorgehen der Polizei werde die Spannungen weiter befeuern "und dürfte eher zu weiterer Gewalt beitragen, statt sie zu beenden". Das Verhältnis zwischen Bürgern und den Behörden habe massiv gelitten, sagt der Vizevorsitzende der Arbeiterpartei, Fernando Cheung Chiu-hung. Elf Menschen hat die Hongkonger Polizei inzwischen festgenommen.

Trotz des massiven Widerstands ist bisher nicht klar, ob die Hongkonger Regierungschefin an dem Gesetz festhalten wird. Medienberichten zufolge, könnte Carrie Lam das Gesetz verschieben. Aus Lams Sicht waren die Massenproteste ein "Aufruhr", der "eindeutig organisiert" gewesen sei. Eine Formulierung, die bei der Verhaftung von Demonstranten höhere Strafen zu Folge haben könnte.

Auch wenn Peking und die staatliche Festlandpresse eine ähnliche Theorie verbreiten, scheinen sich selbst ihre Kollegen aus dem prochinesischen Lager in Hongkong nicht mehr öffentlich zu ihr bekennen zu wollen. "Lam hat ihr politisches Überleben an den Posten geknüpft", sagte ein Abgeordneter der Demokratischen Partei noch vor Mittwoch im Gespräch mit der SZ. Eine Gruppe ehemaliger hoher Regierungsbeamter forderte in einem Brief am Freitag die Regierungschefin auf, nicht eine Konfrontation zu erzwingen, indem sie das Gesetzgebungsverfahren weiter vorantreibt. Ein hoher Beamter bezeichnet ihre Weigerung einzulenken als "Wahnsinn." Für den Sonntag sind wieder Proteste angesagt. Auf der Ankündigung dazu heißt es: "Hongkong ist nicht China - noch nicht."

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