Holocaust-Überlebende:Zeitzeugen berichten von ihrem Martyrium in Auschwitz

Maurice musste Latrinen leeren. Magda sammelte Leichen ein. Hugo wurde von SS-Arzt Mengele für Versuche missbraucht. Zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Aussagen von Zeitzeugen, die überlebt haben.

Von Joachim Käppner und Hans von der Hagen

Vor 70 Jahren, am 27. Januar 1945, erreichte die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz im heutigen Polen. Die deutschen Besatzer hatten es 1940 errichtet. Die Befreier fanden noch 7500 meist dem Tode nahe Häftlinge vor. Die SS war geflüchtet, hatte aber in den Wochen zuvor mindestens 65 000 Häftlinge Richtung Westen deportiert, wobei sehr viele starben.

Auschwitz und seine Außenstellen bildeten einen Komplex, der in erster Linie dem Massenmord diente. Weit mehr als eine Million Menschen wurden hier ermordet, die meisten von ihnen Juden. Zu den Opfern gehörten auch sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma und Widerstandskämpfer. Auschwitz ist zur Chiffre des Zivilisationsbruches geworden, gerade für den Holocaust, den Genozid an den Juden.

Viele Überlebende haben nie darüber gesprochen, weil sie von vornherein nicht daran glaubten, jemand könne die Monstrosität des Geschehens begreifen. Selbst in Israel fanden sie nicht immer Gehör, wie der Überlebende Yehuda Bacon beschreibt, bis dann der Eichmann-Prozess 1961 vieles änderte.

Konzentrationslager KZ Auschwitz Rampe Selektion SS

"Selektion" an der Rampe von Auschwitz: die SS sucht sich einigermaßen kräftigte Menschen aus, um sie als Arbeitssklaven zu schinden. Die anderen, vor allem Alte, Kranke und Kinder, schicken die Nazischergen direkt in die Gaskammern. Das Foto entstand am 27. Mai 1944.

(Foto: AFP)

Der Dichter und Auschwitz-Überlebende Primo Levi dagegen sah es als Verantwortung der Nachwelt, daran zu erinnern: "Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen. / Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet", schrieb er in "Ist das ein Mensch?".

Die letzten Überlebenden von Auschwitz sind jetzt sehr alt. In den vergangenen Jahren haben Zeitzeugen immer wieder der SZ geschildert, was sie erlebt und durchlitten haben.

Magda Hollander-Lafon wurde 1927 als Kind einer säkularen jüdischen Familie in Ungarn geboren. Magdas Vater Adolf wurde von ungarischen Faschisten misshandelt und starb in einem Ghetto. Ende Mai 1944 wurde Magda nach Auschwitz deportiert, wo ihre jüngere Schwester Irene und ihre Mutter Esther sofort vergast wurden.

Sie musste Leichen sammeln und Asche aus dem Krematorium wegkarren. Später kam sie als Arbeitssklavin in andere Lager und überlebte einen Todesmarsch. Sie sagt: "Ich habe schon vom ersten Tag an gewusst, was in Auschwitz passiert." Hier ihr Bericht.

Yehuda Bacon kam 1929 in der damaligen Tschechoslowakei zur Welt. 1942 deportierten die Nazis ihn und seine Familie zunächst in das KZ Theresienstadt, dann nach Auschwitz. Yehuda Bacon überlebte inmitten der Todesfabrik - in einer speziellen Kinderbaracke, die dazu diente, gegebenenfalls das Rote Kreuz zu täuschen.

Er schildert die Hoffnungslosigkeit der jüdischen Häftlinge und den makaberen Humor der Kinder. Hier sein Bericht.

Opfer von Mengeles Menschenversuchen

Hugo Höllenreiner stammt aus München, er wurde 1933 in eine bayerische Sinti-Familie hineingeboren. In den dreißiger Jahren wohnte er noch im Stadtteil Giesing. Nach den Angriffen in der Reichspogromnacht, die auch die Sinti treffen, musste die Familie ins Umland ziehen. Später kehrte sie zwar zurück, doch im März 1943 wurde Hugos Familie zusammen mit weiteren Münchner Sinti verhaftet. Kurz darauf wurden sie nach Auschwitz deportiert.

Im Frühjahr 1944 begann die SS auch im sogenannten "Zigeunerlager" Männer und Frauen für die Rüstungsindustrie auszusuchen und nicht arbeitsfähige Personen zu ermorden. Mitte Mai sollte, so erzählt es Peter Poth, ein Freund Hugo Höllenreiners, auch die Baracke von Hugos Familie geräumt werden.

Das gelang den Nazis zunächst nicht: Unter der Führung von Hugos Vater weigerten sich die Häftlinge, herauszukommen. Die SS-Schergen zogen wieder ab. Kurz darauf wurden Hugo und sein Bruder Manfred zu Doktor Josef Mengele gebracht. Der berüchtigte SS-Arzt führte qualvolle Experimente an beiden Jungen durch. Doch anders, als viele von Mengeles Versuchsopfern, überlebten die Brüder.

36 Verwandte werden Opfer des NS-Rassenwahns

Später gelang es den Sinti-Männern in Auschwitz, mit der SS zu verhandeln. Gegen das Angebot, für Deutschland in den Krieg zu ziehen, werden die Familienmitglieder "entlassen", wobei "entlassen" bedeutet, dass Hugo und seine Familie über die Lager Ravensbrück und Mauthausen in das KZ Bergen-Belsen gebracht werden.

Bei der Auflösung des "Zigeunerlagers" kurz drauf in Auschwitz wurden noch einmal fast 3000 Menschen umgebracht. Hugo Höllenreiner, die Eltern und fünf seiner Geschwister überlebten den Weltkrieg. 36 Familienmitglieder wurden Opfer des Rassenwahns der Nazis. Während des Zweiten Weltkriegs verloren mehr als eine halbe Million Sinti und Roma ihr Leben.

Nach dem Krieg ging die Diskriminierung der Sinti und Roma auch in Westdeutschland weiter. Hugo musste mit 14 ohne Abschluss die Schule verlassen. Später ernährte er seine Familie durch den Verkauf von Bürsten und Putzmitteln. Mittlerweile lebte er in Ingolstadt, ist aber schwer krank. Sein Freund Poth sagt: Für das, was der Familie angetan und geraubt wurde, ist sie nie angemessen entschädigt worden. Hier ein SZ-Porträt von Hugo Höllenreiner.

"Frau mit Brille? Ins Gas!"

Lisa Miková kam 1922 in Prag zur Welt. 1942 wurde sie mit ihrer Familie ins KZ Theresienstadt deportiert - weil sie Juden waren. Von dort wurden zunächst ihre Eltern, dann, im Herbst 1944, ihr Ehemann František ins Vernichtungslager Auschwitz geschafft.

Lisa Miková meldete sich kurz später freiwillig für einen Frauentransport nach Auschwitz. Dass ihre Eltern dort vergast wurden, hat sie erst nach dem Krieg erfahren. Sie sagt: "In der Luft lag immer der Geruch von verbranntem Menschenfleisch - ich kann heute noch nicht an Würstchenbuden vorbeigehen, ohne daran zu denken." Hier ist Lisa Mikovás Bericht über das, was sie im Vernichtungslager erlebt hat. 1945 ging sie nach Prag zurück - und traf dort ihren Ehemann František wieder.

Miková glaubt zu wissen, was passiert, wenn die letzten Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind: "Aber das Interesse und das Wissen werden deutlich nachlassen", sagt Miková in diesem SZ-Interview.

Maurice Cling wird 1944 an seinem 15. Geburtstag mit seiner jüdischen Familie von seiner Heimatstadt Paris nach Auschwitz deportiert. Nach der Ankunft im Konzentrationslager vergast die SS sofort seine Eltern, einige Zeit später seinen entkräfteten Bruder.

Maurice Cling ist einem Kommando zugeteilt, das die Latrinen der Häftlinge säubern muss; eine gefährliche Arbeit, bei der sich viele seiner Leidensgenossen mit Seuchen infizieren und infolgedessen sterben oder ermordet werden. Cling überlebt und wird ins KZ Dachau gebracht, wo er befreit wird.

Der Pariser Professor sagt über Auschwitz: "Das war die Hölle auf Erden." Hier ist ein Interview mit Cling, in dem er darüber berichtet, was er erlitten hat.

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