Hartz IV:Ist das Gericht befangen?

Das Verfassungsgericht wird in seinem Jubiläumsjahr eine bedeutende Entscheidung zur Sozialgesetzgebung fällen. Doch ausgerechnet der gerade neu berufene Senatspräsident wirft einen Schatten.

Von Heribert Prantl

Dies wird ein heikler Auftakt zum Jahr des siebzigsten Jubiläums des Grundgesetzes. Das Verfassungsgericht verhandelt am Dienstag über die umstrittenste Frage deutscher Sozial- und Gesellschaftspolitik: Ist der wichtigste und längste Paragraf des Hartz-IV-Gesetzes verfassungswidrig, weil er die Kürzung des Arbeitslosengeldes II bis auf null erlaubt? Dieser Sanktionsparagraf ist das kalte Herz von Hartz-IV.

Darf das Herz so eiskalt sein? In einer ersten großen Entscheidung zu Hartz IV vor neun Jahren hat das Verfassungsgericht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums postuliert. Die Frage lautet jetzt: Wenn die Hartz-IV-Beträge (die aufgrund des damaligen Urteils neu festgesetzt worden sind) das Existenzminimum darstellen - darf das Jobcenter sie kürzen, um Arbeitslosen Beine zu machen? Anders gefragt: Darf der Sozialstaat das Minimum minimieren oder gar streichen, weil der Arbeitsvermittler den Empfänger für undizipliniert hält? Der umstrittene Paragraf behandelt Arbeitslose als potenzielle Faulpelze, denen man die Faulpelzerei austreiben müsse.

2017 haben die Betreuer in den Jobcentern fast eine Million Mal auf dieser Basis die Leistungen gekürzt oder gestrichen. Das Urteil wird die Zukunft des deutschen Sozialstaats buchstabieren. Es wird das Urteil sein zum Grundgesetzjubiläum. Es geht um eine Frage, die die deutsche Gesellschaft umtreibt wie sonst nur noch das Flüchtlingsthema, um eine Frage, die die SPD in den Abgrund gestürzt hat. Und ausgerechnet in dieser Frage ist das höchste Gericht in einer heiklen Situation: Stephan Harbarth, der neue Vorsitzende des zuständigen Ersten Senats, jetzt Vizepräsident und künftig Präsident des Verfassungsgerichts, muss sich fragen lassen, ob er in dieser Sache wirklich ganz unbefangen ist. Harbarth hat vor einem halben Jahr, damals war er noch CDU-Abgeordneter im Bundestag, in namentlicher Abstimmung für die Beibehaltung des Sanktionsregimes im Hartz-IV-Gesetz gestimmt - jener Regeln also, die jetzt auf dem Prüfstand stehen. Jetzt soll er die Verhandlung des Gerichts leiten. Erwacht da nicht bei fast jedem Beobachter die Besorgnis der Befangenheit? Nach dem Gesetz ist allerdings die bloße frühere Beteiligung am einschlägigen Gesetzgebungsverfahren kein zwingender Ausschlussgrund; im vorliegenden Fall freilich war die Parlamentssitzung nicht in grauer Vorzeit, sondern erst vor wenigen Monaten, am 28. Juni 2018. Die besondere zeitliche Nähe macht Unbehagen. Verfassungsrichter Peter Müller hat sich 2018 bei der Verhandlung der Verfassungsbeschwerden über die Sterbehilfe selbst abgelehnt, weil er sich einst als saarländischer Ministerpräsident für ein strafbewehrtes Verbot organisierter Suizidhilfe eingesetzt hatte. Das Gericht stimmte dieser Selbstablehnung zu, weil es sich um Umstände handele, die über die bloße frühere Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren hinausgehen. Bei "vernünftiger Würdigung aller Umstände" habe ein Verfahrensbeteiligter Anlass, "an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln." Die Selbstablehnung ist in einem solchen Fall und bei solchen Zweifeln eine korrekte und elegante Lösung. Auch Verfassungsrichter Stephan Harbarth sollte es so halten. Er stärkt damit das Gericht, dessen Unabhängigkeit - und seinen eigenen Ruf.

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