Gutachten:Nur halb krank

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Arbeitsunfähigkeit in Prozent? Bislang gibt es das nicht. (Foto: Bernd Weissbrod/dpa)

Mit gebrochenem Fuß ins Büro? Sachverständige wollen manche Patienten nur teilweise arbeitsunfähig schreiben lassen.

Von Korbinian Eisenberger, Berlin

Bei einer Krankschreibung gibt es für Erwerbstätige in Deutschland bisher keinen Spielraum. Entweder man ist krank und arbeitsunfähig, oder gesund und kommt ins Büro - so ist der Stand der Dinge. Genau dies könnte sich demnächst jedoch ändern: Am Montag stellten Berater des Bundesgesundheitsministeriums ein Sondergutachten vor, in dem sie vorschlagen, ein sogenanntes Teilkrankengeld einzuführen. Nach Angaben der Gutachter des Sachverständigenrats Gesundheit (SVR) könnte Arbeitnehmern somit künftig trotz Krankenstand eine teilweise Einsatzfähigkeit bescheinigt werden. Also: Krank sein und trotzdem arbeiten.

Ein Vollzeit-Dachdecker mit gebrochenem Fuß? Der könnte bald halbtags im Büro arbeiten

"Das Gutachten gibt wichtige Anstöße und ist eine gute Diskussionsgrundlage für weitere Maßnahmen", sagte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), der die Empfehlungen in Berlin in Empfang nahm. Er freue sich "auf den politischen und fachlichen Austausch, der diese Empfehlungen aufgreift". Gröhes Ministerium hatte das Gutachten in Auftrag gegeben, Anlass dafür waren die zuletzt stark gestiegenen Krankengeld-Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Kassen müssen den Lohn eines Arbeitnehmers dann übernehmen, wenn er länger als sechs Wochen krankgeschrieben ist - und damit nicht arbeiten darf.

An dieser Alles-oder-Nichts-Regelung will der SVR nun rütteln. Je nach Situation eines Arbeitnehmers im Krankenstand solle künftig eine Einstufung möglich werden, wonach ein Arzt 25-, 50-, 75- oder 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit bescheinigen könnte. Wer eine halbe Erwerbsunfähigkeit attestiert bekommt, müsste also die Hälfte seiner normalen Arbeitszeit am Schreibtisch sitzen. Denkbar wäre etwa, dass ein Vollzeit-Dachdecker mit gebrochenem Fuß zwar nicht mehr bis zur Dämmerung auf die Leiter steigt, stattdessen aber halbtags Büroarbeiten erledigt. Den Lohn für jene Stunden, die der Dachdecker fortan in der Arbeit verbringt, würden die Versicherungen also einsparen. "Wir wollen das System flexibler und alltagstauglicher machen", sagte der SVR-Vorsitzende Ferdinand Gerlach. Die Einstufung solle "im Einvernehmen zwischen Arzt und Patienten" erfolgen.

Tatsächlich hätte eine flexiblere Neuregelung erhebliche Nachteile für Erwerbstätige: Bereits jetzt versuchen Krankenkassen mitunter, ihre Beitragszahler möglichst vor Ende der Sechswochenfrist an den Arbeitsplatz zu drängen, um Geld zu sparen. Patienten, die mit einer Krankschreibung ihres Hausarztes im Bett bleiben, kann es etwa passieren, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen sie dennoch für gesund erklärt. Kritik gibt es aus der Opposition. Grünen-Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmenk warnte, die Empfehlung des SVR dürfte nicht dazu führen, dass auf Patienten mehr Druck ausgeübt werde, "oder sie in ihren Rechten eingeschränkt werden". Klein-Schmenk forderte, den Fokus auf die langen Wartezeiten bei psychischen Erkrankungen zu lenken.

Politisch geprüft ist der SVR-Vorschlag noch nicht. Um die Empfehlungen umzusetzen, "wäre wohl eine Gesetzesänderung nötig", sagte Gerlach. Nach Angaben des SVR sei denkbar, das Konzept als Modell in einem Bundesland zu testen und erst dann auf Bundesebene umzusetzen.

Hintergrund des Bestrebens, Patienten schneller ins Arbeitsleben zurückzuführen, ist die Tatsache, dass die gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr mit 10,6 Milliarden Euro einen Höchstwert an Krankengeld-Ausgaben verzeichneten - 2006 waren es noch 5,7 Milliarden Euro. Den Anstieg führt der SVR auf das höhere Erwerbseinkommen der Einzahler und die Zunahme älterer krankengeldberechtigter Mitglieder zurück. Zudem seien immer mehr psychische Erkrankungen zu verzeichnen.

© SZ vom 08.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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