Trittin über Kurs der Grünen:"Radikalität ist die Voraussetzung für Konsens"

Jürgen Trittin von Bündnis 90/Die Grünen.

Der frühere Parteivorsitzende Jürgen Trittin ist inzwischen einfacher Bundestagsabgeordneter der Grünen.

(Foto: dpa)

Die Grünen wollen mit einem neuen Grundsatzprogramm für noch mehr Wähler und politische Partner attraktiv werden. Droht jetzt die Beliebigkeit? Ein Gespräch mit dem früheren Parteichef Jürgen Trittin.

Interview von Stefan Braun und Constanze von Bullion, Berlin

Die Grünen wollen mit einem neuen Grundsatzprogramm dauerhaft neue Wählergruppen und politische Partner gewinnen. Man verstehe sich als "Bündnispartei", deren Politik sich an alle Bürger richte, heißt es in einem Zwischenbericht, den die Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock am Freitag vorgestellt haben. Nun diskutieren etwa 700 Teilnehmer eines Grundsatzkonvents in Berlin über die Inhalte. Wohin bewegt sich die Partei? Der frühere Parteivorsitzende und Ex-Umweltminister Jürgen Trittin, 64, erklärt das neue grüne Selbstverständnis.

SZ: Die klassischen Volksparteien schrumpfen, die Grünen aber wachsen. Werden Sie die neue Volkspartei in Deutschland?

Jürgen Trittin: Das Modell Volkspartei ist ein Auslaufmodell. Weder CDU noch SPD versammeln in ihrer Mitte heute noch klassenübergreifend die Bevölkerung. Die Breite der Bevölkerung spiegelt sich in Zukunft in Deutschland in drei, vier mittelgroßen Parteien. Und wir arbeiten daran, dass wir Grüne eine davon sein werden - als der progressive Pol der linken Mitte.

Das neue Zauberwort der Parteiführung heißt Bündnispartei. Dem Sinne nach soll das wohl heißen: Die Grünen sollen möglichst viele potenzielle Partner finden. Muss ein erfahrener Grüner wie Sie, der gerne hart fürs Kerngeschäft gekämpft hat, jetzt nicht Beliebigkeit befürchten?

Das zielt weniger auf Koalitionen, sondern ist unser Selbstverständnis. Wir wollen ein progressives Bündnis unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte sein. Unsere Partei hat ihre Wurzeln in vielen gesellschaftlichen Bewegungen: Anti-Atom, Frauen, Frieden. Wir haben daraus eine starke Partei gemacht, die ihre Wurzeln eben nicht abgeworfen hat und trotzdem offen für Neues ist - von Flüchtlingsinitiativen bis Fridays for Future, aber auch für Gewerkschafter und engagierte Christen. Die fühlen sich heute oft bei den weltlichen Grünen besser aufgehoben als bei den Parteien mit dem C im Namen.

Robert Habeck sagt gerne, Radikalität sei der neue Realismus. Gleichzeitig will er - wie Annalena Baerbock - weniger Konfrontation und mehr demokratischen Konsens, etwa mit der Industrie, mit Gewerkschaften, mit den Verfechtern der Marktwirtschaft. Ist das nicht ein radikaler Widerspruch?

Radikalität ist die Voraussetzung für Konsens. Vor 40 Jahren lachte man uns Atomkraftgegner aus - heute haben wir einen Konsens zum Ausstieg. Wir wollen die radikale Dekarbonisierung unserer Energieversorgung - jetzt gibt es einen Kohlekonsens. Im Wahlkampf wurde die grüne Forderung nach dem Ende des fossilen Verbrennungsmotors als radikal gebrandmarkt - heute arbeitet Volkswagen daran. Nur wer gesellschaftlichen Problemen radikal an die Wurzel geht, kann Konsense stiften.

In den Bundesländern müssen die Grünen immer mehr Flexibilität beweisen. Keine andere Partei muss derart viele verschiedene Bündnisse aushalten. Zurzeit sind es acht Varianten. Frisst das nicht auf Dauer die Seele auf?

Angst essen Seele auf. Wir definieren uns über die Inhalte unserer Politik, nicht darüber mit welchem politischen Konkurrenten wir versuchen müssen, diese umzusetzen. Man kann sich parlamentarische Mehrheiten nicht backen, deshalb gibt es Bündnisse auf Zeit. Das sind Koalitionen. Das funktioniert mal besser und mal schlechter. Aber ich habe den Eindruck, dass die meisten Regierungen, an denen wir Grüne bisher beteiligt waren, eher den Koalitionspartner als uns verändert haben.

In der Mitte der Legislaturperiode wunderbare Umfragen haben und später doch wieder abstürzen - das haben Sie auch schon leidvoll erleben müssen. Was muss die heutige Führung vermeiden, damit sich das nicht wiederholt?

Je näher der Wahltermin rückt, je wahrscheinlicher es ist, dass die Grünen eine wichtige Rolle in einer künftigen Regierung spielen werden, umso stärker wird der Gegenwind der Strukturkonservativen werden. Darauf gilt es sich vorzubereiten. Man fliegt nicht schwerelos in eine Regierungsbeteiligung, Veränderungen wollen hart erkämpft werden. Die Europawahl, Bremen, Sachsen, Thüringen, Brandenburg sind nur ein Vorgeschmack auf diese Auseinandersetzung. Und darauf werden Annalena (Baerbock) und Robert (Habeck) die Partei einstellen.

Wie soll aus Ihrer Sicht das strategische Ziel der Grünen im Bund aussehen? Jamaika? Schwarz-Grün? Rot-Grün? Oder: Regieren, egal mit wem?

Wir müssen so stark werden, dass ohne uns nicht regiert werden kann. Nur so hat eine engagierte Klimapolitik, hat eine Politik globaler Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität eine Chance.

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