Großbritannien:Teures Erwachen nach dem Brexit

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Die Briten haben für den Brexit gestimmt, ihre Regierung versucht nun, das zu managen. Ob Premierministerin May tatsächlich bis März die EU offiziell über den Austrittswunsch informiert, ist aber noch ungewiss.

(Foto: Oli Scarff/AFP)

Großbritannien spürt immer deutlicher, welche Folgen der EU-Austritt haben könnte. Mehr als 100 Milliarden Euro könnte er kosten. Doch die größte Sorge der Briten sind die USA.

Von Christian Zaschke, London

Philip Hammond gilt unter den Brexit-Befürwortern als verdächtig, weil er einer der wenigen britischen Minister ist, der nicht fortwährend davon spricht, dass das ganze Unternehmen ein Erfolg werde. Hammond ist Realist. In seinem früheren politischen Leben war er Verkehrs-, Verteidigungs- und Außenminister und stets wohlgelitten, weil er ein ruhiger Mann ist, der seinen Job erledigt und sich nicht in den Vordergrund spielt. Nach dem Votum für den Austritt aus der EU ist er befördert worden, er ist jetzt Finanzminister, und obwohl das ein Posten mit noch mehr Einfluss ist, heißt es in Westminster, dass Hammond den Tag seiner Ernennung verfluche. Das liegt auch daran, dass Hammond, der für den Verbleib in der EU war, nun manchmal erklären muss, der Brexit sei eine Chance für Großbritannien.

In der kommenden Woche stellt Hammond zudem seinen ersten Haushalt als Finanzminister vor, und wie jetzt bekannt wurde, wird er dabei schöne Worte für ein Problem finden müssen. Wie die Financial Times berichtet, könnte der Austritt aus der EU die Briten in den kommenden fünf Jahren etwa 100 Milliarden Pfund (116 Milliarden Euro) kosten. Diese Summe komme durch weniger Wachstum und geringere Investitionen zustande. Hammond hatte geplant, einen Haushalt mit Steuererleichterungen für Geringverdiener zu präsentieren. In Anbetracht der Prognose wird er darüber noch einmal nachdenken müssen.

Merkels Äußerung wurde in Großbritannien als wegweisend aufgenommen

Seine Chefin, Premierministerin Theresa May, wird an diesem Freitag in Berlin im Kanzleramt weilen, um gemeinsam mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen europäischen Staats- und Regierungschefs mit dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu sprechen. Einige britische Zeitungen spekulierten bereits, dass May den Termin nutzen könnte, um mit Merkel über deren Äußerung zu sprechen, dass man über die Freizügigkeit innerhalb der EU "weiter diskutieren" könne. Eines der wichtigsten Argumente der Befürworter des Brexit war, dass Mitgliedsstaaten der EU keine Kontrolle über die Einwanderung aus anderen Ländern der Union haben. Deshalb wurde Merkels Äußerung in Großbritannien als wegweisend aufgenommen.

Bis Ende März kommenden Jahres will May die Institutionen in Brüssel offiziell vom Austrittswunsch der Briten unterrichten. Das würde der Beginn einer zwei Jahre währenden Verhandlungsphase sein, in der die Details des Austritts festgelegt werden. Die beiden Hauptanliegen Großbritanniens sind erstens, eine Kontrolle der Einwanderung aus EU-Staaten und zweitens, der Wunsch, Teil des europäischen Binnenmarktes zu bleiben. Diese Ziele galten bisher als unvereinbar. Merkels Äußerung, dass man über die Freizügigkeit zumindest diskutieren könne, hat in der Brexit-freundlichen Presse zu Spekulationen darüber geführt, dass die EU nun wohl doch dazu bereit sei, über einen ihrer ehernen Grundsätze zu verhandeln.

Diese Spekulationen wurde auch dadurch befeuert, dass Außenminister Boris Johnson dieser Tage sagte, es sei "ein Mythos", dass die Freizügigkeit zu den Gründungsprinzipien der EU gehöre. In einem Interview mit einer tschechischen Zeitung legte er außerdem dar, dass man aus der Zollunion austreten, aber trotzdem weiterhin Freihandel in der EU betreiben wolle. Der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem nannte diesen Plan "intellektuell unmöglich".

Die vielleicht größte Sorge in der britischen Regierung betrifft die USA

Ob Premierministerin May tatsächlich bis Ende März in Brüssel vorstellig wird, um die EU auch offiziell vom Austritt zu unterrichten, wird derweil zunehmend fraglich. Im Dezember wird der Oberste Gerichtshof darüber entscheiden, ob das Parlament darüber bestimmt, wann und wie Brüssel benachrichtigt wird. Im November hatte ein Gericht angeordnet, dass die Regierung die Verhandlungen nicht ansetzen könne, ohne vorher das Parlament zu konsultieren. Der Oberste Gerichtshof entscheidet nun, ob dieses Urteil rechtskräftig ist.

Dass die Debatten auch nach dem Votum für den Brexit in großer Schärfe geführt werden, zeigt sich an Titelseite der Daily Mail, die nach dem ersten Urteil ein Foto der drei Richter gedruckt und dieses mit der Rubrik versehen hatte: "Feinde des Volkes". Es dauerte mehrere Tage, bis zumindest Teile der Regierung sich vor die Justiz stellten.

Die vielleicht größte Sorge in der britischen Regierung betrifft derzeit allerdings nicht Europa, sondern die USA. Da niemand in Westminster davon ausging, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen würde, gibt es de facto keinen Kontakt seitens der britischen Regierung zu dessen Lager. Der einzige britische Politiker mit gutem Zugang zu Trump ist Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party. Farage hat angeboten, er könne ein Vermittler sein zwischen dem Vereinigten Königreich der Theresa May und den Vereinigten Staaten des Donald Trump. May lehnte ab.

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