Gastkommentar:Ohne Care kein Cash

Menschen müssen für Kranke, Kinder und das eigene Leben sorgen dürfen und können. Doch das Kümmern wird in Deutschland unterschätzt

Von Paula-Irene Villa Braslavsky

Jede und jeder muss essen, braucht frische Wäsche, Nähe und Hilfe in der Not. Care geht alle an, ausnahmslos. Das englische Wort ist mit Fürsorge nur unzulänglich übersetzt. Care meint die Hinwendung zu den Bedürfnissen lebendiger Wesen. Ob privat oder öffentlich, bezahlt oder nicht, aus Liebe oder als Geschäft, ob freiwillig oder durch Sachzwänge bedingt.

Doch die deutsche Gesellschaft ist care-feindlich. Es mangelt an Zeit, Geld, Anerkennung. Im Konkreten spüren alle unmittelbar, was dies bedeutet. Der bettlägerige Patient auf der Station müsste nicht nur gewaschen, sondern auch beschäftigt werden - ein Spiel, ein Gespräch aber ist im Dienstplan nicht vorgesehen. Die Dreijährige trödelt beim Anziehen, der Kindergarten aber schließt um 9 Uhr. Die Oma ruft täglich an, ihr geht es nicht so gut. Sie tut allen in der Familie leid, man möchte sie besuchen - aber es muss so viel anderes erledigt werden. Das sind keine faulen Ausreden, das ist der Ernst des Lebens, welcher der Logik der Erwerbsarbeit folgt.

Was die kleinen und großen Dramen im Privaten wie Öffentlichen eint, ist, dass Care sich zwei Zwängen zumindest teilweise entzieht, die für diese Gesellschaft strukturbildend sind: Profit und Beherrschbarkeit. Zugleich aber ist Care für produktive Arbeit und das kapitalistische Wirtschaftssystem die Grundlage. Die Arbeitskraft muss wiederhergestellt werden. Ohne Care kein Cash.

Wenn Care aber so viel bedeutet, warum wird es dann so vernachlässigt? Die Antwort ist vergleichsweise simpel: Aus historischen Gründen ist das Kümmern in der westlichen Moderne eine weibliche Domäne. Sorge gilt seit dem 19. Jahrhundert als Kern natürlicher Weiblichkeit: "Die Natur selbst (hat) der Frau ihren Beruf als Mutter und als Hausfrau vorgeschrieben", so der Physiker Max Planck 1897. Noch immer erscheint Care als Liebesdienst der Frauen. Es gibt, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung jüngst feststellte, einen Gender Care Gap in der Bundesrepublik. Frauen leisten quer durch die Milieus mehr unbezahlte Sorgetätigkeiten als Männer. Väter verbringen nach Geburt ihrer Kinder statistisch mehr Zeit im Job als vor der Geburt, wohingegen junge Mütter ihre Erwerbsarbeitszeit verringern.

Wenn aber mehr Frauen erwerbstätig sind, weil sie es so wollen und auch müssen, knirscht es im sozialen Gebälk. Männer müssten die Hälfte der Sorge übernehmen, eigentlich. Auch für sie gilt dabei: Sich anderen zuzuwenden, ist Quelle von Glück. Nicht immer, nicht zwingend. Aber doch immer wieder, auf unersetzbare Weise. Wer das nicht erlebt, verpasst etwas.

Seit Jahren aber weitet sich die Erwerbsarbeit zulasten von Care aus. Immer mehr Menschen arbeiten zu immer unsichereren Konditionen, viele arbeiten lange. Alle sind mit der individuellen Lösung eines strukturellen Problems beschäftigt, und das gelingt je nach Ressourcen mehr oder weniger, oft auch gar nicht.

Die gängigste Lösung im reichen Deutschland heißt: Auslagerung. Kommerzielle Care-Dienste aber werden überwiegend schlecht bezahlt. Auch das gehört geändert - lebensnotwendige Care-Arbeit in den Kindergärten, Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern des Landes ist mehr wert.

Doch selbst mit mehr Geld bliebe das sperrige Problem: Sich zu kümmern ist nur bedingt in planbare, profitable Arbeitsformen zu bringen. Care produziert keinen Mehrwert, erwirtschaftet keinen Gewinn. Denn alle diese Tätigkeiten erzeugen 'nur' möglichst gutes Leben.

Und: Was passiert mit den Bedürfnissen, wenn sie sich dem Markt unterordnen? Bedürfnisse durchkreuzen das Planvolle, das Organisationen und Märkte benötigen. Sie lassen sich nur bedingt beherrschen. Körper werden krank, die frische Liebe will gelebt werden und stört die Konzentration, der Sohn braucht mehr Hilfe bei den Hausaufgaben.

Mehr Care, weniger Erwerbsarbeit wäre die Lösung. Für alle. Wenn das nicht ernst genommen wird, kommen der Politik diejenigen zuvor, die genau dies versprechen, aber in pervertierter Weise nur für das "eigene Volk": Völkisch-nationalistische Populisten fordern eine fremdenfeindliche Familienpolitik. Daran ist nicht die Wertschätzung von Familie (welcher Art auch immer!) und Care das Gefährliche und Falsche; falsch und gefährlich ist vielmehr, manchen diese Wertschätzung zu verweigern. Alle Menschen überall haben ein Recht, Fürsorge zu geben und zu bekommen.

Paula-Irene Villa Braslavsky lehrt Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: