Gastbeitrag:Machtkampf in Europa

Nur wenn das EU-Parlament Ursula von der Leyen ablehnt und sich auf einen eigenen Kandidaten einigt, kann es sein Versagen ausgleichen.

Von Christoph Vedder

Im Streit, wer an die Spitze der neuen EU-Kommission treten soll, geht es im Kern nicht um den "Spitzenkandidaten". Es geht um die demokratische Legitimation der Kommission. Das EU-Parlament ist unmittelbar durch die Europawahlen legitimiert. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs ist durch die demokratischen Systeme der Mitgliedstaaten indirekt legitimiert. Die Kommission wird seit dem Vertrag von Lissabon dadurch demokratisch legitimiert, dass das Europaparlament den Kommissionspräsidenten wählt. Nominiert wird er dagegen durch den Rat, der dabei "das Ergebnis der Europawahlen berücksichtigen" muss.

Ein Spitzenkandidat für die Europawahlen ist jedoch nicht das Ergebnis der Wahlen, auch nicht, wenn er der stärksten Parteienfamilie angehört. Er hat weder einen politischen noch gar einen rechtlichen Anspruch darauf, vom Rat dem Parlament vorgeschlagen zu werden. Nach den Europawahlen im Mai war das Parlament nicht in der Lage, binnen fünf Wochen eine Persönlichkeit zu präsentieren, die die nötige absolute Mehrheit der Abgeordneten hinter sich hat.

Einem von der Mehrheit des Parlaments auf den Schild gehobenen Kandidaten hätte sich der Rat politisch kaum verweigern können. So war das nach der Wahl 2014, als sich die beiden großen Parteienfamilien im Parlament auf Jean-Claude Juncker als Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft einigten und ihn gegenüber dem Rat durchsetzten. Anders 2019: Das Parlament überließ es dem Rat, einen Kandidaten zu nominieren. Allerdings hat allein das Parlament die Macht, den Kommissionschef zu wählen und später die Kommission als ganze durch Zustimmung ins Amt zu befördern.

Im Machtgefüge zwischen Rat und Parlament bedeutet das: Die Abgeordneten könnten kommenden Dienstag ihr Versagen überwinden und Macht zurückgewinnen, indem sie die vom Rat nominierte Kandidatin Ursula von der Leyen ablehnen und tags darauf einen mehrheitsfähigen Kandidaten aus ihren Reihen präsentieren. Dem könnte sich der Rat kaum entziehen. Nach einer politisch bindenden Erklärung zum Vertrag von Lissabon sind Parlament und Rat gemeinsam für den reibungslosen Ablauf der Wahl des Kommissionspräsidenten verantwortlich und müssen in Konsultationen über das Profil des Kandidaten unter Berücksichtigung der Europawahlen eintreten.

Falls das Parlament jedoch am Dienstag Ursula von der Leyen wählen sollte, würde es ihr volle Legitimation verschaffen. Ihre Kandidatur mag mit dem Makel des "Hinterzimmers" behaftet sein und, anders als ein Spitzenkandidat, ist sie nicht ins Parlament gewählt worden. Das Verfahren entspricht aber den EU-Verträgen und kann am 16. Juli zu einer demokratisch voll legitimierten Kommission führen. Allerdings hätte das Parlament an Statur verloren, und die 2014 begonnene Entwicklung wäre erst einmal abgebrochen.

Die Spitzenkandidatentheorie leidet auch daran, dass die Europawahlen in den Mitgliedstaaten getrennt nach nationalen Listen stattfinden. Die Spitzenkandidaten sind so primär nationale Kandidaten. So kommen die Interessen der Mitgliedstaaten ins Spiel - der unvermeidbare Gegensatz von EU und Mitgliedstaaten.

Die nationale Prägung der Europawahlen zu überwinden, etwa durch transnationale Listen und Wahlkreise, wird politisch (kleine Parteien und kleine Mitgliedstaaten wären wohl dagegen) und rechtlich (Einstimmigkeitsprinzip) ebenso Utopie bleiben wie die vertraglich ursprünglich vorgesehene, aber gescheiterte Wahl des Europaparlaments nach einem einheitlichen Wahlsystem. Ohne Vertragsänderung lässt sich eine Situation wie die derzeitige nur - aber auch leicht - vermeiden, indem sich die im Europaparlament nach einer Wahl vertretenen Parteienfamilien zusammenraufen, eine formelle oder informelle Koalition bilden und einen Kandidaten des Parlaments ausrufen.

Das hat das in diesem Jahr bei hoher Wahlbeteiligung gewählte Europaparlament nicht getan und es so versäumt, die Parlamentarisierung des Regierungssystems der EU zu stärken. Seit der ersten Direktwahl des Parlaments vor 40 Jahren hat es sich mit seiner direkten demokratischen Legitimation im Rücken immer mehr Kompetenzen erkämpft. Dieses Momentum wurde jetzt nicht genutzt.

Spitzenkandidaten stehen an der Spitze von Wahllisten in einem Mitgliedstaat. Kandidat für die Wahl zum Kommissionspräsidenten wird man jedoch erst, wenn man eine Regierungsmehrheit im neuen Parlament hinter sich versammelt - wie es in Deutschland für die Wahl zum Bundeskanzler gilt. Darauf sollte man beim nächsten Mal achten.

Christoph Vedder lehrte Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht in Augsburg.

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