Frauenrechte in Saudi-Arabien:"Es hängt vom männlichen Vormund ab, was die Frau tun darf"

Life In The Kingdom of Saudi Arabia

"Ohne die Integration der Frauen in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt wird Saudi-Arabien in Zukunft mit der Lösung der wirtschaftlichen Probleme enorme Probleme haben": saudische Frauen in Jeddah.

(Foto: Getty Images)

Frauen dürfen in Saudi-Arabien künftig selbständig reisen. Was das für das Land und die Gesellschaft bedeutet, erklärt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons.

Interview von Anika Blatz

Ein Regierungsbeschluss im Königreich Saudi-Arabien erlaubt es Frauen zukünftig, ohne die Zustimmung ihres männlichen Vormunds einen Pass zu beantragen und damit frei zu reisen. Nachdem unter den von Kronprinz Mohammed bin Salman eingeleiteten Reformen im vergangenen Jahr bereits das Fahrverbot für Frauen abgeschafft wurde, stellt dieser Schritt eine weitere wichtige Modernisierungsmaßnahme des arabischen Landes dar. Was die Reisefreiheit für die Saudi-Araberinnen bedeutet und inwieweit die Lockerungen taktischen Erwägungen des Königshauses geschuldet sind, erklärt Sebastian Sons. Der studierte Islamwissenschaftler beschäftigt sich seit mehreren Jahren intensiv mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Saudi-Arabien und besucht das Königreich regelmäßig. Er arbeitet unter anderem als Saudi-Arabien-Experte für das Bonner Forschungsinstitut CARPO und die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin.

SZ.de: Herr Sons, wie hat man sich das Leben der Frauen in Saudi-Arabien bisher vorstellen müssen?

Sebastian Sons: Pauschal lässt sich das nicht beantworten, weil es da große Unterschiede gibt. Junge, sehr gut ausgebildete Frauen haben schon seit ein paar Jahren größere Freiräume - gesellschaftlich und vor allem auf dem Arbeitsmarkt - als ältere, weniger gebildete Frauen. Allen gemein ist aber dennoch, dass sie gesellschaftlich, politisch und rechtlich nicht gleichgestellt sind. Sie leben in sehr konservativen und patriarchalen Strukturen. Es ist grundsätzlich so, dass der Vater, Ehemann oder ein anderer männlicher Verwandter rechtlicher Vormund der Frau ist. Saudi-Araberinnen sind bei den meisten ihrer Lebensentscheidungen weitgehend abhängig von dessen Einverständnis. Egal ob die Aufnahme eines Studiums, die Ausübung bestimmter Berufe, bei der Partnerwahl oder bislang eben auch bei einer Reise - das letzte Wort hat in vielen Bereichen der Mann.

Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die jetzige Gesetzesänderung hin zur Reisefreiheit einordnen?

Damit ist ein großer Schritt in die richtige Richtung unternommen worden, der innerhalb des Landes schon lange diskutiert wird. Ich halte das auch nicht für eine kosmetische Maßnahme, es ist schon sehr ernst gemeint. Auch in der Vergangenheit sind einzelne Frauen ohne offizielle Erlaubnis ihrer männlichen Verwandten ins Ausland gereist, das war dann aber eine Sache, die man innerhalb der Familie so gehandhabt hat. Dass dazu jetzt tatsächlich auch eine offizielle Aussage kommt, ist ein wichtiges Signal und setzt den Modernisierungsprozess fort, der in den letzten drei Jahren unter Kronprinz Mohammed bin Salman vorangetrieben wird. Durch seine Politik, die vor allem auf junge, gut ausgebildete Frauen abzielt, möchte er erreichen, dass Frauen sehr viel stärker am Arbeitsmarkt aktiv werden können. Denn das ist für die wirtschaftliche Zukunft nach dem großen Ölgeschäft dringend notwendig. Außerdem will er im In- und Ausland als jemand wahrgenommen werden, der sich für die Modernisierung und Liberalisierung des Landes einsetzt.

Handelt es sich dann letztlich nicht doch um eine berechnende Maßnahme, um einerseits neue Geldgeber ins Land zu holen und andererseits das infolge der Ermordung des Regimekritikers Jamal Khashoggi ramponierte Image des Königshauses im Ausland aufzupolieren?

Ganz klar muss man sagen, dass das, was Mohammed bin Salman tut, kein Gutmenschentum ist. Er möchte Saudi-Arabien als neu, modern, aufgeschlossen und offen präsentieren und das ist eine kalkulierte Strategie. Allerdings eine, die notwendig ist. Ohne die Integration der Frauen in die Gesellschaft und in die Arbeitswelt wird Saudi-Arabien in Zukunft mit der Lösung der wirtschaftlichen Probleme enorme Probleme haben. Es muss ein aktiver, dynamischer und auch ein konkurrenzbereiter Arbeitsmarkt geschaffen werden. Bin Salman hat erkannt, dass er dafür die Frauen braucht. Damit verbunden ist auch der Versuch, sich als starken Anführer zu präsentieren, der sich für die Belange der weiblichen Bevölkerung einsetzt. Insbesondere bei den jungen Menschen will er dadurch Zustimmung gewinnen. Zum anderen versucht er so natürlich auch die Reputation Saudi-Arabiens im Ausland wiederherzustellen. Der Mord an Khashoggi hat aber nicht nur zu Rissen im Außenverhältnis geführt, sondern auch das Vertrauensverhältnis zwischen Königshaus und einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung nachhaltig gestört. Natürlich versucht der Kronprinz auch, dem großen Misstrauen innerhalb des eigenen Landes entgegenzuwirken.

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Dass Frauen einen Beruf ausüben, ist in Saudi-Arabien bisher keineswegs selbstverständlich. Mit der Reisefreiheit eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Frauen können jetzt ungehindert im Ausland studieren.

Die jetzt getroffenen rechtlichen Regelungen sind noch keine Garantie dafür, dass die offiziell gewährte Reisefreiheit in den jeweiligen Familien auch problemlos umgesetzt wird. Gesellschaftlich nehmen Frauen überwiegend noch die Rolle der Ehefrau, Hausfrau und Mutter ein. Am Ende des Tages hängt es weiterhin vom männlichen Vormund ab, was die Frau tun darf, denn es wird schwer möglich sein, dieses Recht einzuklagen. Aber natürlich stellen die Lockerungen argumentatorisch eine Erleichterung dar. Durch die Legitimation von höchster Stelle schafft man den Frauen innerhalb der Familie eine viel bessere Grundlage dafür, ihre Rechte einfordern zu können.

Könnte sich hieraus eine richtige Frauenbewegung entwickeln, die sich für weitere Freiheiten starkmacht - beispielsweise die freie Partnerwahl?

In einer autoritären, traditionellen und religiösen Gesellschaft wie in Saudi-Arabien kann Veränderung nur auf dem Weg erfolgen, wie es jetzt passiert. Fortschritte sind in Saudi-Arabien immer nur dann eingetreten, wenn sich das Königshaus einen Schritt auf die Bevölkerung zubewegt hat, nicht andersherum. Dass es nur mit Zustimmung der Herrscher geht, das weiß jeder und das stellen die allerwenigsten in Frage. Eine Frauenbewegung, wie wir uns das im Westen vorstellen, wird es daher nicht geben. Das heißt aber nicht, dass es keine Bewegung der Frauen gibt, nur weil sie sich nicht gegen das Königshaus wendet. Die Generation der Frauen um die 30 führt diese Diskussionen innerhalb der Familie. Ich habe das oft miterlebt, wie kontrovers diskutiert wird, wie Töchter mit ihren Vätern mittlerweile sprechen und wie selbstbewusst sie dabei auftreten. Ich glaube, diese Regelungen geben ihnen mehr Mittel an die Hand, dieses alte männliche Patriarchat weiterhin herauszufordern und zu sagen: Seht her, unser allseits geliebter Kronprinz möchte das so und er ist auf unserer Seite und wenn du dich gegen mich stellst, lieber Ehemann, lieber Vater, dann stellst du dich in gewisser Art und Weise gegen den Kronprinzen. Und das ist in Saudi-Arabien etwas, was man sich nicht vorwerfen lassen möchte. Mittelfristig wird dieser Prozess dazu führen, dass sich das Verhalten auf beiden Seiten ändert.

Wie steht der männliche Teil der Bevölkerung zu den Sozialreformen?

Ich habe bisher keine massive Kritik gehört. Zumindest die gut ausgebildete männliche Mittelschicht ist viel liberaler, was die Geschlechtertrennung angeht, als es vielleicht die ältere Generation ist. Es gibt mit Sicherheit einzelne konservative und religiöse Kräfte, die damit Probleme haben, aber die haben im Land an Bedeutung verloren. Die meisten sind sich einig, dass die gesellschaftliche Öffnung notwendig ist, wenn das Land wirtschaftlich unabhängiger vom Öl werden will. Kritik gibt es weniger am Inhalt als an der Umsetzung: Viel zu schnell, viel zu unkoordiniert und viel zu chaotisch. Es werden über Nacht neue königliche Dekrete erlassen, bei denen viele Bürger nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Für sie ist das momentan eine Transformationsphase, bei der nicht klar ist, was am Ende rauskommt.

Wäre es legitim, von einer revolutionären Entwicklung zu sprechen?

Für mich ist es keine Revolution, eher eine Evolution, die vom Staat getrieben ist. Eine Entwicklung, die angefangen hat und die jetzt konsequent fortgesetzt wird, weil sie den Frauen, dem Staat und dem Kronprinzen nützt. Das sind die drei Dinge, die momentan für Mohammed bin Salman am wichtigsten sind. Er muss seine Position stärken, um irgendwann König werden zu können.

Wie passen für das Königshaus die Verhaftungen von Aktivisten und Aktivistinnen, die sich in der Vergangenheit für Frauenrechte eingesetzt haben, mit der nach außen gelebten Modernisierung zusammen?

Mohammed bin Salman ist jemand, der alleine dafür gepriesen und gelobt werden möchte, dass solche Modernisierungen durchgeführt werden. Er duldet niemanden, der ihm die Schau stiehlt. Die Verhafteten waren aus seiner Sicht zu öffentlich, haben sich zu stark in den westlichen Medien präsentiert. Sie haben sich - so wurde es in Saudi-Arabien wahrgenommen - über das Königshaus und den Kronprinzen gestellt, indem sie sich als die Triebkräfte dieses Wandels dargestellt haben. Unabhängig von den Inhalten, die sie vertraten, haben sie damit eine rote Linie überschritten. Es ging dabei nicht um das Was, sondern das Wie. Das war nicht demütig genug, das war nicht loyal genug, sagen viele. Eine Emanzipationsbewegung, die unabhängig vom Königshaus agiert, ist in Saudi-Arabien schlichtweg nicht akzeptabel. Ich halte es aber für nicht ausgeschlossen, dass die Inhaftierten in absehbarer Zeit freigelassen werden. Aber auch das ist natürlich wieder eine strategische Entscheidung.

Steht in absehbarer Zeit die vollständige Abschaffung des patriarchalen Vormundschaftssystems in Aussicht?

Um die konservativen Kräfte nicht gänzlich vor den Kopf zu stoßen, wird man die Vormundschaft auf dem Papier weiter aufrechterhalten, das System dabei aber immer weiter aushöhlen. Ein schleichender Abschied also, ohne dass es allzu sehr auffällt.

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