Flüchtlinge:Flucht nach Westen

  • Hunderte Flüchtlinge kommen aus Ungarn in Wien und Bayern an.
  • Die Regierung von Oberbayern rechnete damit, dass weitere Hunderte Flüchtlinge in München ankommen werden.
  • In Rosenheim stößt die Bundespolizei längst an ihre Kapazitätsgrenze.

Von Andrea Bachstein, Florian Fuchs und Thomas Schmidt

Die Mutter hat ein kleines Mädchen auf dem Arm, der Vater lächelt erschöpft, der 16 Jahre alte Sohn spricht ein wenig Englisch, er übersetzt: "Wir kommen aus Afghanistan", sagt Nazar Nazari, "drei Monate hat es gedauert, bis wir hier angekommen sind." Sechs jüngere Geschwister hat Nazari noch. Am Montagabend steht die ganze Familie im Registrierungszentrum für Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof, "wir sind sehr müde", sagt Nazari.

Die Familie gehört zu den mehreren Hundert Flüchtlingen, die am Montag per Zug von Ungarn nach Wien und dann nach Bayern gefahren sind. Offenbar waren Polizei und Behörden in der österreichischen Hauptstadt nicht mehr in der Lage, die bis zu tausend aus Budapest per Zug eintreffenden Menschen zu kontrollieren und zu registrieren; sie ließen die Züge weiter nach Deutschland fahren.

Nach Beobachtungen der SZ-Korrespondentin herrschten am Wiener Westbahnhof am Abend chaotische Zustände. Es warteten noch mehrere Hundert Menschen am Bahnsteig und im Bahnhofsgebäude darauf, nach Deutschland weiterreisen zu können. Polizisten dort gaben zu verstehen, dass die Zahl der Flüchtlinge so groß sei, dass sie mit den verfügbaren Beamten nicht mehr kontrolliert werden könnten. Aus diesem Grund gab es auch keine offiziellen Angaben darüber, um wie viele Menschen es sich handelt, geschätzt waren es etwa 1000, die in Wien eintrafen. Die Flüchtlinge hatten zuvor in der ungarischen Hauptstadt die Züge nach Österreich regelrecht gestürmt, nachdem die Polizei sich dort zurückgezogen hatte.

Flüchtlinge einfach Richtung Deutschland reisen lassen

Es ist ein Rückzug, der eigentlich nicht hätte passieren dürfen: Nach den Asylregeln der EU ist Ungarn verpflichtet, alle Einwanderer bereits dort zu registrieren. Am Montag entsteht der Eindruck, als würde sich zumindest an diesem Tag Österreich ebenfalls nicht mehr an das Dublin-Abkommen halten, sondern die Flüchtlinge einfach Richtung Deutschland durchreisen lassen.

Der Railjet 64 aus Österreich kommt gegen 19 Uhr in München mit Nazaris Familie und insgesamt etwa 200 Flüchtlingen an. Gegen 20.30 Uhr treffen dann nochmals 50 in Budapest gestartete Flüchtlinge ein. In Rosenheim hat die Bundespolizei zuvor etwa 190 Menschen aus einem von Österreich eintreffenden Zug geholt.

Die Regierung von Oberbayern rechnete damit, dass am Dientag Hunderte weiter Flüchtlinge in München ankommen. Um das zu bewältigen, waren zahlreiche Asylbewerber noch in der Nacht mit Bussen in Aufnahmeeinrichtungen in andere Regierungsbezirke und andere Bundesländer weitergeschickt worden. Ein großes Problem für die Behörden ist jedoch, dass das dafür nötige Computerprogramm, das bundesweite Verteilsystem "Easy", normalerweise zwischen 20 und sechs Uhr früh nicht in Betrieb ist. Am Montagabend heißt es von der Regierung von Oberbayern, dass Easy ausnahmsweise bis 23 Uhr laufen sollte.

Geordnete Verhältnisse am Münchner Hauptbahnhof

Am Münchner Hauptbahnhof läuft die Ankunft geordnet ab. Hilfsbereite Reisende kaufen Wasser und Brezen, um sie den Erschöpften zu reichen. Die behördliche Registrierung dauert nur ein paar Minuten pro Familie, dann werden die Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan auf den Vorplatz des Hauptbahnhofs geführt, für das medizinische Screening. Ein privater ärztlicher Notdienst hat einen alten orangefarbenen Bus aufgestellt. "Wir untersuchen die Leute kurz, auf Krätze oder Flöhe, dann geht es weiter für sie", sagt Florian Aicher, der die medizinische Leitung hatte. Danach fahren die Flüchtlinge zur Erstaufnahme-Einrichtung.

"Das ist keine Routine mehr", sagt Jürgen Vanselow von der Münchner Bundespolizei. Gerade hat er Polizisten aus dem Feierabend zurückgeholt, hat mit seinen Leuten eine Sitzung abgehalten, um sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten. "Wir haben besprochen, wie wir die Menschen fair behandeln und ihnen schnell weiterhelfen können." Das klappt auch ganz gut, die Registrierung läuft reibungslos.

In Rosenheim hat die Bundespolizei die etwa 190 mit dem Zug aus Österreich angekommene Asylbewerber zunächst in eine Turnhalle gebracht, wo sie versorgt und registriert werden, unter ihnen sind viele Frauen und Kinder. Polizeisprecher Rainer Scharf sagt, die Flüchtlinge würden die Nacht auf Feldbetten in der Turnhalle verbringen und an diesem Dienstag weiter nach München reisen. Weil die Bundespolizei in Rosenheim längst an ihre Kapazitätsgrenze geraten ist, würden die Beamten nur etwa die Hälfte des Zuges durchsuchen können, berichtete Scharf. "Wir haben gerade 200 Flüchtlinge auf der Dienststelle", erklärt er. "Wir können die Menschen nicht übereinanderlegen."

Polizeisprecher: Kein gutes Gefühl

Der Polizeisprecher geht davon aus, dass man weitere Züge aus Ungarn wohl direkt nach München durchfahren lassen müsse. Ein gutes Gefühl hat Scharf dabei nicht. "Es gibt gute Gründe, illegal einreisende Personen so früh wie möglich aus den Zügen zu holen." Sie zu registrieren schütze die Flüchtlinge vor Schleppern. Nach der Erfassung durch die Polizei könnten die Asylbewerber selbst nach München weiterreisen, ohne auf kriminelle Banden angewiesen zu sein, so Scharf.

Die Neuankömmlinge sind vor allem Syrer, Afghanen und Eritreer, die am Vormittag in der ungarischen Hauptstadt Budapest die Möglichkeit genutzt haben, in Züge nach Österreich zu steigen. Das war möglich geworden, weil sich die Polizei vom Budapester Keleti-Bahnhof zurückzog und Flüchtlinge, die im Besitz einer Fahrkarte waren, die Züge besteigen ließ - ohne sie überprüft oder Asylanträge registriert zu haben. Es spielten sich auch dort chaotische Szenen ab. An dem Budapester Bahnhof hatten zuvor mehrerer Tage lang rund 2000 Flüchtlinge darauf gewartet, nach Österreich weiterfahren zu können.

Überfüllte Züge an österreichischer Grenze gestoppt

Die Züge aus Ungarn waren am Nachmittag an der österreichischen Grenze für Kontrollen vorübergehend gestoppt worden, auch weil sie vollkommen überfüllt gewesen waren. Die bereits in Ungarn registrierten Flüchtlinge sollten nach Budapest zurückgeschickt werden, sagte der Wiener Polizeisprecher Roman Hahslinger, die anderen könnten weiterreisen. Erst mit mehrstündiger Verspätung erreichten die Züge schließlich Wien.

In München sagt am Ende dieses langen Tages ein Mann aus Syrien: "Ich bin froh hier zu sein. In Budapest waren die Polizisten nicht so freundlich." Dann geht er schnell weiter. Er will sich waschen und ins Bett, "ich muss wieder einen klaren Kopf bekommen."

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