Anschlag auf Breitscheidplatz:Anis Amris möglicher Mitwisser soll abgeschoben werden

Anschlag auf Breitscheidplatz: Unter den abgeschobenen Migranten, die am Flughafen in Tunis ankommen, könnte bald auch Bilel A. sein.

Unter den abgeschobenen Migranten, die am Flughafen in Tunis ankommen, könnte bald auch Bilel A. sein.

(Foto: Hassene Dridi/AP)
  • Der Mann, der ein Freund des Berliner Attentäters Anis Amri sein soll, sitzt in Moabit im Gefängnis.
  • Dort ist er nach Informationen von SZ, NDR und WDR mehrfach vernommen worden. Er bestreitet, dass er von dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz etwas wusste.
  • Er will mit Anis Amri über Religion, Frauen und Drogen gesprochen haben.
  • Der Inhaftierte war mit mindestens 18 verschiedenen Identitäten unterwegs und soll den Staat um Sozialleistungen betrogen haben.

Von Georg Mascolo, Hans Leyendecker, München

Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen sitzt der 26-jährige Bilel A. in der Berliner Justizvollzugsanstalt Moabit ein. Er ist der Mann, mit dem der 24-jährige Attentäter Anis Amri am Abend vor dem Anschlag in einem Berliner Lokal zusammensaß.

Beim Essen, so haben Zeugen berichtet, hätten die beiden Männer intensiv miteinander gesprochen. Ist A. Mitwisser? War er vielleicht sogar in die Planung des Attentats eingebunden, bei dem am 19. Dezember zwölf Menschen starben?

Gespräch über Italien

A., der kurz nach dem Anschlag als Gefährder eingestuft wurde, ist in den vergangenen Wochen mehrmals vernommen worden. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR bestreitet er strikt, irgendetwas von dem bevorstehenden Anschlag gewusst zu haben.

Worüber sie denn dann gesprochen hätten, wollten die Ermittler wissen. Anis Amri, antwortete A., habe gemeint, dass er bald nach Italien abgeschoben werden solle. Das war Unsinn, aber aus Amris Sicht dennoch logisch. In Italien hatte er wegen diverser Delikte vier Jahre in Haft gesessen und war dort aus einer Haftanstalt für Abschiebungen in Sizilien entlassen worden.

"Dann such dir doch schon einmal eine italienische Frau", will A. gesagt haben. Stimmt die Geschichte, die er bei seinen Vernehmungen erzählt? Oder spielt er den Unschuldigen nur?

Videos vom Anschlagsort gefunden

Über seinen Freund Amri sagte A. den Vernehmern: "Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas machen kann." Früher habe er von Amri günstig Drogen bekommen, Haschisch und auch mal Kokain. Erst als er das vom IS veröffentlichte Bekennervideo Amris gesehen habe, sei für ihn alles klar gewesen.

Auf dem von den Ermittlern sichergestellten Handy A.s wurden Videoaufnahmen vom Anschlagsort, dem Breitscheidplatz, gefunden. A. behauptet, nicht er habe die Aufnahmen gemacht, sie seien ihm aufs Handy geschickt worden. Die Ermittler glauben ihm das.

Gespräche über Drogen und Religion

Sie haben in den vergangenen Wochen versucht, die Geschichte der beiden Freunde Amri und A. in allen Details nachzuzeichnen. Einige Daten stehen fest: Der 26-jährige A. kam im Herbst 2014 nach Deutschland und wurde in Leipzig untergebracht. Der zwei Jahre jüngere Amri kam ein Jahr später und landete in Emmerich am Niederrhein. Beide bewegten sich gleich in islamistischen Kreisen.

Wenn sie miteinander telefonierten, waren oft staatliche Lauscher in der Leitung. So ließ sich rekonstruieren, dass die beiden spätestens seit Dezember Kontakt hatten. Zwischen April und Juni 2016 wurde das weniger, dann sprachen sie wieder regelmäßig miteinander. Es ging um Verabredungen, das Opferfest, Drogenzeug.

Am 21. September wurde die Überwachung Amris eingestellt. Dann folgt das berühmte Loch, als man ihn aus den Augen verlor, und das bis Dezember reicht. Trotz A. ist der Fall des Attentäters Amri in der entscheidenden Phase vor dem Anschlag also eine dunkle und undurchdringliche Geschichte geblieben.

A. könnte nun der erste Islamist sein, der für die Zeit nach Amri steht. Für die neue Zeit, in der Behörden in solchen Fällen nicht zaudern und nicht lange abwägen, wie es im Fall Amri passiert ist. A. soll abgeschoben werden. So schnell wie möglich. Der Staat will Härte zeigen. Konsequent sein.

Viele Alias-Identitäten

Um das Neue besser zu verstehen, ist ein weiterer kurzer Vergleich der beiden Fälle sinnvoll. Gegen Amri, der vierzehn Aliasnamen hatte, wurde unter anderem wegen gewerblichen Betrugs ermittelt. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Die Idee des Landeskriminalamts Düsseldorf, in dieser Sache gegen Amri einen Haftbefehl zu beantragen, wurde gleich verworfen.

A. hatte mindestens achtzehn Alias-Identitäten. Er wurde am 3. Januar festgenommen, weil er, ähnlich wie einst Amri, im Verdacht steht, den Staat bei Sozialleistungen betrogen zu haben. Es geht in seinem Fall um rund 1500 Euro.

Was bei Amri nicht möglich und machbar schien, geht jetzt sofort.

Dabei ist A.s Fall, was eine mögliche Abschiebung betrifft, viel diffiziler als der Fall Amri. Bei Amri stand für die deutschen Behörden immer fest, dass er Tunesier war und nach Tunesien abgeschoben werden sollte. Das klappte nicht, weil die Behörden in Tunis auf Zeit spielten und anfangs so taten, als kennten sie ihn nicht.

Bei A. wussten die Behörden anfangs nicht so recht, was für ein Landsmann er ist. "Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit", aber nicht "mit Sicherheit" sei er Tunesier. Das geht aus einer am 4. Januar vorgelegten Sprachanalyse hervor. Allerdings könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass er aus Ägypten, Algerien, Marokko oder Libyen stamme. Für alle diese Länder hatte er Alias-Identitäten.

A. kommt aus Tunesier

A. selbst war in dieser Frage keine Hilfe. Bei einer Anhörung im Sommer 2016 hatte er sich nicht mal an Namen und Anschrift der Eltern erinnern mögen.

Da sie es nicht genau wussten, schickten jetzt die Behörden Fotos und Fingerabdrücke nach Libyen, Ägypten, Marokko und natürlich auch nach Tunesien. Mit einer Antwort aus Tunis, so steht es in einem Papier aus diesen Januartagen, rechneten sie frühestens Ende April, eher werde es Anfang Juni werden.

Die Tunesier bräuchten aus Erfahrung 15 bis 20 Wochen Zeit. Irrtum. Vor einigen Tagen meldeten sich die Tunesier, die im Fall Amri unter Druck geraten waren, und teilten mit, A. sei Tunesier. Das mit den Passersatzpapieren werde klappen.

Abschiebungen nach Tunesien umstritten

Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe und der Berliner Generalstaatsanwalt erklärten sofort, sie seien mit der Abschiebung einverstanden. Beide laufenden Verfahren sollen für den Fall der Abschiebung eingestellt werden. Die üblichen Abschiebungshindernisse mag niemand mehr erkennen.

Für A., der von dem Berliner Anwalt Ralf-Peter Fiedler vertreten wird, könnte die Abschiebung in seine Heimat gefährlich werden. Im Sommer 2016 hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen die Abschiebung eines Islamisten nach Tunesien abgelehnt, weil ihm dort Misshandlungen oder Folter drohen könnten.

In seinem Urteil hatte sich das Gericht damals auf Erkenntnisse der "Weltorganisation gegen Folter" und auf eine Mitteilung des Außenministeriums in Berlin zur Lage in Tunesien bezogen. Eine Gefährdung von Islamisten in tunesischer Haft sei nicht auszuschließen. Aber vielleicht gilt das, was gestern galt, heute nicht mehr.

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