Entscheidung in Straßburg:Wenn jede Stimme zählt

Ursula von der Leyen hat viele Abgeordnete im Europäischen Parlament beeindruckt. Das liegt allerdings nicht nur daran, dass sie in ihrer Rede fast jeder Gruppierung etwas verspricht.

Von Karoline Meta Beisel und Matthias Kolb

Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin

„Wer dieses Europa schwächen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin“: Ursula von der Leyen am Dienstag im Europaparlament, links der AfD-Abgeordnete Jörg Meuthen.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Um 12.09 Uhr, mehr als zweieinhalb Stunden dauert das Stakkato aus Wortmeldungen da schon, zieht der schottische Europaabgeordnete Alyn Smith eine etwas frustriert klingende Zwischenbilanz: "Die Debatte ist jetzt an einem Punkt angekommen, wo alles schon gesagt wurde. Nur noch nicht von jedem." 80 Abgeordnete hatten sich zu Wort gemeldet, um Forderungen zu stellen, Wünsche zu äußern und Hoffnungen zu formulieren. Nur eine darf jetzt kaum noch sprechen: die Kandidatin selbst, Ursula von der Leyen. Zu Beginn der Debatte mit dem Europäischen Parlament in Straßburg hatte sie zehn Minuten lang auf die Einwürfe der Fraktionschefs geantwortet, und gegen Ende noch einmal drei Minuten Bilanz gezogen. Dazwischen sitzt sie einfach nur da und hört zu. Immerhin, ein Glas Wasser wurde ihr irgendwann gereicht.

Am Morgen hatte sie vor dem EU-Parlament in einer halbstündigen Rede ihre "Leitlinien" für die Zukunft Europas vorgestellt: das Programm, mit dem sie um die Abgeordneten werben wollte, deren Stimmen sie braucht, um Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker zu werden.

Zu Beginn dieser Rede erinnert die CDU-Politikerin - auf Französisch - an die Französin Simone Veil, die vor knapp 40 Jahren als erste Frau zur Präsidentin des Europäischen Parlaments gewählt wurde. Sie freue sich, dass nun endlich auch eine Frau Kandidatin für den Job der EU-Kommissionspräsidentin sei. Dann schwärmt sie auf Deutsch davon, dass heute 500 Millionen Europäer in Wohlstand und Freiheit leben würden. Aber die Digitalisierung, der demografische und vor allem der klimatische Wandel seien Herausforderungen, die vielen Bürgern Sorgen bereiteten. Europa dürfe auf diese Sorgen nicht mit Protektionismus oder autokratischen Tendenzen antworten, sondern mit Geschlossenheit. "Wenn wir im Inneren einig sind, kann uns niemand von außen spalten", sagt sie.

Dann widmet sie sich dem Thema, das die Politik der EU-Kommission - also vielleicht auch die ihre - in den kommenden fünf Jahren bestimmen wird: der Klimakrise. Sie sagt, sie wolle Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen. Dies solle in einem "Klimagesetz" festgeschrieben werden, verspricht sie. "Was gut für den Planeten ist, muss gut für die Menschen sein", sagt von der Leyen. Ein Fonds soll den Bürgern in jenen EU-Ländern helfen, für die die Transformation ihrer Wirtschaft schwierig wird. In Europa, so sagt die Kandidatin, lasse man niemanden zurück.

Ihre Rede trägt sie stehend hinter einem durchsichtigen Podest vor, das ein Saaldiener nach Ende des Vortrags gleich wieder verschwinden lässt. Immer wieder streut von der Leyen Hinweise auf ihre Biografie ein. Als siebenfache Mutter sei es ihr besonders wichtig, Armut zu bekämpfen und dafür zu sorgen, Kindern Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu geben. Außerdem plädiert die Kandidatin für eine europäische Arbeitslosenrückversicherung. Sie soll EU-Staaten helfen, wenn sie von einem wirtschaftlichen Schock getroffen werden. Als sie über den geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU spricht, den sie "bedauert, aber respektiert", wird es richtig laut - gerade in den Reihen der Brexit-Party rund um Nigel Farage. Von der Leyen bleibt ruhig und betont, dass das Vereinigte Königreich "unser Verbündeter, unser Partner und unser Freund" bleiben werde. Auf ihre Forderung, dass die EU in der Außenpolitik vom Prinzip der Einstimmigkeit abgehen sollte, folgt lautes Klatschen, aber es gibt auch Buh-Rufe.

Den Großteil ihrer Rede hält von der Leyen auf Englisch, doch am Ende wechselt sie noch einmal ins Deutsche. Sie berichtet von ihrem Vater, der am Ende des Zweiten Weltkriegs, durch den Deutschland "Tod, Verwüstung, Vertreibung und Zerstörung" über Europa gebracht hat, 15 Jahre alt gewesen war. Später arbeitete er für die Montanunion, weshalb sie in Brüssel zur Welt kam. Sie bezeichnet sich als "leidenschaftliche Kämpferin" und macht klar: "Wer aber dieses Europa schwächen, spalten oder seine Werte nehmen will, der findet in mir eine erbitterte Gegnerin."

Die EU müsse ihren Einfluss nutzen und Verantwortung übernehmen für sich und andere: "Die Welt braucht mehr Europa." Ihre Bewerbungsrede beendet sie mit einem pathetischen Aufruf in drei Sprachen: "Es lebe Europa, vive l'Europe, long live Europe."

In der anschließenden Debatte ergreift Manfred Weber von der EVP als Chef der größten Fraktion zuerst das Wort. Er bekräftigt, dass die Kandidatin am Abend auf die Stimmen der Christdemokraten zählen kann: "Die Europäische Volkspartei wird Ursula von der Leyen heute geschlossen unterstützen." Er bedanke sich für ihre Zusage, dem Parlament ein Initiativrecht einzuräumen, spricht sich aber auch dafür aus, den Nominierungsprozess für den Kommissionspräsidenten in der Zukunft zu verbessern, "damit die Hinterzimmer endlich der Vergangenheit angehören" - was im Saal mit Gelächter kommentiert wird.

Die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, die Spanierin Iratxe García Peréz, beteuert, dass die Abgeordneten "keine institutionelle Krise" wollten, "die den Wandel noch aufschiebt". Die 16 SPD-Europaabgeordneten dagegen bleiben auch am Dienstagnachmittag bei ihrer Ankündigung, von der Leyen nicht zu unterstützen. Ihnen geht es ums Prinzip, genauer: das Spitzenkandidatenprinzip. Ohne einen Deal zwischen Rat und Parlament seien die Versprechungen von der Leyens an das Parlament nichts als "ungedeckte Schecks", erklärt die neugewählte Abgeordnete Gaby Bischoff nach der Debatte. Darum habe sie auch vor der Europawahl auf dem Spitzenkandidatenprinzip bestanden. "Ich will nach der Abstimmung noch in den Spiegel schauen können, und nicht aus Opportunismus für von der Leyen stimmen, oder weil das jetzt Mainstream ist." Auch die Grünen blieben nach der Debatte bei ihrem Nein zu Ursula von der Leyen, weil ihnen die Zusagen im Klimaschutz nicht weit genug gehen.

Von der Leyens Probleme in Berlin spielen in Straßburg kaum eine Rolle - bis sich der Satiriker Nico Semsrott erhebt, Abgeordneter von "Die Partei". Er fordert die Kandidatin auf, ihre finanziellen Interessen offenzulegen - und trägt dabei einen schwarzen Kapuzenpulli, der von oben bis unten mit den Logos jener Unternehmensberater beklebt ist, denen das Verteidigungsministerium jene Aufträge erteilt hat, mit denen sich nun im Bundestag ein Untersuchungsausschuss beschäftigt.

Um 12.57 Uhr, fast vier Stunden nachdem sie ein Saaldiener in den Plenarsaal geführt hatte, bedankt sich von der Leyen für eine lebhafte und kontroverse Debatte, die gezeigt habe, wie lebendig Europas Demokratie sei. Auf die vielen Wortbeiträge zuvor geht sie kaum ein. Dann Händeschütteln mit dem Parlamentspräsidenten und ein paar Selfies mit Abgeordneten, bevor sie den inzwischen deutlich leerer gewordenen Plenarsaal als eine der letzten verlässt.

Eine wichtige Personalie hatte sie schon am Vorabend geklärt: Bei ihrem Besuch in der EVP-Fraktion teilte sie mit, den deutschen EU-Beamten Martin Selmayr im Falle ihrer Bestätigung weder als Generalsekretär der EU-Kommission noch als Kabinettschef behalten zu wollen. Selmayr gilt als rechte Hand Junckers und Spiritus Rector von dessen selbsternannter "politischer Kommission". In der Brüsseler Polit-Blase ist Selmayr als "Fürst der Finsternis" und "Berlaymonster" bekannt und gefürchtet - in den Wochen nach der Europawahl gab es permanent Gerüchte, dass der 48-Jährige nach einem Kandidaten für die Juncker-Nachfolge suche, der es ihm erlaube, weiter im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes zu bleiben, wo alle wichtigen Dossiers über seinen Schreibtisch gehen.

Die Ankündigung, nicht auf Selmayr zu setzen, dürfte von der Leyen im Europaparlament helfen. Erst im Dezember forderte eine Mehrheit der Abgeordneten dessen Rücktritt, weil sie seine Beförderung, die binnen Minuten erfolgte, als rechtswidrig ansehen. Dem Insider-Portal Politico verriet Selmayr nun, dass er in eineinhalb Wochen Brüssel verlassen wolle. Er rechne damit, dass von der Leyen einen Franzosen zum Generalsekretär machen werde, etwa den Finanzfachmann Olivier Guersent.

Zu all diesen Fragen äußert sich die Kandidatin am Dienstag nicht. Die fünf Stunden zwischen Ende der Debatte und Beginn der Abstimmung verbringt die CDU-Politikerin im Büro ihres Übergangsteams. Telefoniert werde kaum mehr, heißt es aus ihrem Umfeld, man arbeite eher "Orga-Sachen" ab. Die Entscheidung über ihre Zukunft treffen nun andere. Am späten Nachmittag kommt dann eine Nachricht, die von der Leyens Chancen deutlich steigert: Zwei Drittel der Sozialdemokraten wollen offenbar für sie stimmen.

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