Elektronische Patientenakte:Der gläserne Arzt

Die elektronische Patientenakte wird alles offen legen: Diagnose, Therapie, Medikation. Was ist, wenn auf diese Weise die Arbeit der Ärzte öffentlich wird? Dann werden sie angreifbar! Das kann Angst machen. Aber die Ärzte müssen damit umgehen lernen. Wie geht das?

Von Michaela Schwinn

Es ist wirklich absurd. Auf der einen Seite werden Miniroboter entwickelt, die durch die Blutbahn schwimmen und den Blutdruck messen. Implantate unter der Haut steuern den Insulinspiegel und Roboterarme operieren Menschen. Auf der anderen Seite stehen in den meisten Arztpraxen noch Faxgeräte, Befunde werden ausgedruckt und wieder eingescannt. Hier Innovation, dort Steinzeit. Und viele Ärzte scheinen sich dort, in der Steinzeit, sogar ganz wohlzufühlen.

Die elektronische Patientenakte ist das jüngste Beispiel. Vor wenigen Tagen ging die App Vivy an den Start, entwickelt von einem Berliner Start-up. Mit ihr können Patienten künftig digital auf alle wichtigen Daten zugreifen: Laborbefunde, Blutwerte, Röntgenbilder. Endlich können sie nach einem Arztbesuch alles in Ruhe nachlesen - Angina wie? Was hat der Doktor noch mal gesagt? Sie können die Daten anderen Ärzten zeigen, sich eine zweite Meinung einholen. Es können Doppeluntersuchungen vermieden werden; die App warnt auch, wenn es Wechselwirkungen zwischen Medikamenten geben könnte. Der Patient würde mündiger, die Behandlung effizienter. Eine tolle Sache also. Oder?

Viele Ärzte sehen das anders. Unnütz finden sie die elektronischen Akten, ja sogar gefährlich. Sie warnen vor dem gläsernen Patienten, vor Hackern und Sicherheitslücken. Und ihre Bedenken sind nicht unbegründet: Kein Netzwerk ist hundertprozentig sicher. Schwer zu glauben ist allerdings, dass allein der Datenschutz ihnen Bauchschmerzen bereitet. Denn ganz ehrlich: Sind sensible Patientendaten durch den Post- oder Mailversand besser geschützt als auf digitalen Plattformen? Daran kann man begründet zweifeln.

Viel wahrscheinlicher ist es, dass die Mediziner eines noch mehr fürchten als den gläsernen Patienten: das gläserne Selbst, den gläsernen Arzt. Die elektronische Patientenakte legt alles offen: Diagnose, Therapie, Medikation. Wem der Patient diese Daten zeigt, bleibt ihm überlassen, und so kann es sein, dass die Diagnose des Kardiologen nicht nur der Hausarzt liest oder die geschwätzige Nachbarin, sondern auch das ganze Netz. Die Arbeit der Mediziner liegt nicht mehr sicher verschlossen im Aktenschrank, sie wird öffentlich, und sie selbst werden angreifbar.

Was ist, wenn die Arbeit der Ärzte öffentlich wird? Dann werden sie angreifbar!

Das kann Angst machen, gewiss. Es kann verunsichern, wenn ein Kollege die Symptome anders bewertet. Und es kann viel Zeit und Mühe kosten, mit dem Patient über selbstrecherchierte Informationen aus dem Internet zu diskutieren. Aber deshalb jede Innovation zu verdammen, ist falsch. Ärzte müssen akzeptieren, dass der Patient nicht mehr nur still vor ihnen sitzt und nickt, sondern dass er nachfragt, dass er sich informiert. Und dass er vermutlich bald mit dem iPhone sein eigenes EKG aufzeichnen kann.

Damit sie diese Entwicklung nicht überrollt, müssen junge Ärzte schon im Studium dafür geschult werden. Sie müssen lernen, welche Daten es gibt, wie Patienten sie nutzen und wie sie in den Sprechstunden damit umgehen. Vor allem aber müssen sie entscheiden, welche Rolle sie als Arzt einnehmen wollen: die des Allwissenden mit alleiniger Deutungshoheit oder die des Spezialisten, der mit den Patienten auf Augenhöhe zusammenarbeitet. Nur so kommen sie raus aus der Steinzeit, denn da haben junge Ärzte nun wirklich nichts verloren.

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