Chemnitz:Spurensuche nachts im Dönerladen

Tatortbesichtigung zur Chemnitzer Messerattacke

Tatortbesichtigung in Chemnitz: Ein Aufgebot von Polizeifahrzeugen vor einem Dönerimbiss.

(Foto: dpa)

Im Prozess zur Messerattacke von Chemnitz dreht sich viel darum, was man aus dem Fenster eines Schnellimbisses heraus beobachten kann. Das Gericht will sich vor Ort selbst ein Bild machen - ist dann aber schnell wieder weg.

Von Annette Ramelsberger, Chemnitz

Die Vorsitzende Richterin öffnet beherzt das Fenster des türkischen Restaurants, aus dem heraus Döner und Cola auf die Straße hinaus verkauft werden. Sie beugt sich über die Brüstung, auf der normalerweise Coladosen, Bier und Fladenbrot stehen. Dann macht sie den Hals ganz lang, schaut angestrengt nach links den Gehsteig hinunter und fixiert in der Ferne jene Stelle, wo am 26. August 2018 ein Mensch getötet worden ist. Daniel H., 42, ein Deutsch-Kubaner.

Es war dieser Tod, der zu den Krawallen von Chemnitz geführt hat, zu aufmarschierenden Rechtsextremisten, zum Schulterschluss von gewaltbereiten Rechten mit der AfD. Ein Tod, dessen Folgen die Sicherheitsbehörden auf den Prüfstand stellten. Sie haben diese Prüfung nur knapp bestanden.

Nun, fast zehn Monate später, steht das Rechtssystem auf dem Prüfstand und das Landgericht Chemnitz und seine Vorsitzende Richterin Simone Herberger im Dönerladen. Seit Monaten müht sich das Gericht, zu klären, wer für den Tod von Daniel H. verantwortlich ist. Er war nachts um drei Uhr nach dem Chemnitzer Stadtfest in einem Knäuel von Menschen vermutlich von einem Asylbewerber mit mehreren Messerstichen getötet worden.

Indizien fallen in sich zusammen

Der dringend Tatverdächtige Farhad A. ist nach der Tat in den Irak geflohen. Einen anderen hat die Staatsanwaltschaft festnehmen lassen und musste ihn nach drei Wochen wieder auf freien Fuß setzen: Sie hatte nichts gegen ihn in der Hand. Nun steht in Chemnitz ein Bekannter dieses Mannes vor Gericht, ein Friseur, Alaa S., 23. Ihm wird gemeinschaftlicher Totschlag vorgeworfen. Das Problem für das Gericht: Je länger der Prozess dauert, desto mehr fallen auch die Indizien gegen diesen Angeklagten in sich zusammen.

Keiner von Daniel H.s Freunden, die damals beim Stadtfest um ihn herumstanden, kann sich daran erinnern, den jetzt angeklagten Alaa S. in dem Handgemenge zustechen gesehen zu haben. Andere Zeugen reden immer wieder von dem in den Irak geflohenen Farhad A. Sie sagen, dass dieser aggressiv gewesen sei und Daniel H. angegriffen habe. Nur ein einziger Zeuge sagt, er habe den Angeklagten Alaa S. beim Angriff auf Daniel H. gesehen: der Koch des Dönerrestaurants "Alanya".

Und genau deswegen ist das Landgericht Chemnitz nachts um 0.20 Uhr hier in der Brückenstraße, hundert Meter entfernt vom "Nischel", der Karl-Marx-Büste, zwischen Dönerspieß und Fladenbroten.

Der Koch heißt Younis al-N., er ist 30, untersetzt und war bei seiner Aussage vor Gericht sehr nervös. Er will damals Schreie gehört, sich aus dem Fenster des Dönerladens gelehnt und dann gesehen haben, wie Farhad A. und Alaa S. auf Daniel H. eingestochen haben. Doch mittlerweile ist er sich da nicht mehr sicher.

Einer nach dem anderen geht nun ans Fenster und schaut hinaus: Erst die drei Richter, dann die zwei Schöffen, dann die Vertreter der Nebenkläger. Am längsten schaut der Staatsanwalt vom Fenster aus Richtung Tatort. Es geht um eine wichtige Frage: Kann man aus dem hell erleuchteten Fenster des Restaurants wirklich erkennen, was in 50 Metern Entfernung, im Schatten von acht Linden-Bäumen vor sich geht? In einem Knäuel von Menschen? Kann man erkennen, ob einer nur geschlagen oder zugestochen hat?

Bei seinen ersten Vernehmungen sagte der Koch noch, Alaa S. habe zugestochen, jetzt sagt er: er habe nur zugeschlagen. Allerdings, das gehört zum Bild dazu, der Koch soll auch bedroht worden sein von Freunden Alaas. Man habe ihm gesagt, er werde im Sarg in seine Heimat zurückkehren. Er hat jetzt Personenschutz. Auf jeden Fall ist er mittlerweile so unsicher, dass er am liebsten gar nichts mehr sagen würde.

Wenn Richter sich aus ihrem Gerichtssaal heraus und zu einem Tatort begeben, noch dazu mitten in der Nacht, heißt das meist: Die Ermittlungen sind nicht so überzeugend, dass das Gericht sich darauf verlassen kann. Es will und muss sich selbst ein Bild machen. Denn was der Staatsanwalt in seine Anklage so voller Überzeugung geschrieben hat, als wäre er als Augenzeuge in jener Nacht dabei gewesen, das schrumpft vor Ort zusammen zu einer bloßen Vermutung: Alaa S. war im Dönerladen gewesen, wie viele andere auch war er zu der Schlägerei gelaufen. Er kann, aber er muss nicht bei dem Handgemenge dabei gewesen sein. Es gibt ein paar Zeugen, die sich an sein T-Shirt erinnern wollen. Aber nicht daran, dass er zugestochen hat. Ein Messer mit Fingerabdrücken oder DNA von ihm wurde nicht gefunden, dafür ein Messer mit Blutspuren des in den Irak geflüchteten Farhad A. Ein Zeuge sagt, er habe Alaa S. und den Iraker Farhad vor der Polizei wegrennen sehen. Und der Koch Younis al-N. sagte, die beiden hätten blutige Hände gehabt. Aber auch das hat er schon wieder zurückgenommen.

Zum Tatzeitpunkt war es in der Straße vermutlich dunkler

Nun geht es hier in Chemnitz um Grundsätzliches: Die Verteidigung hat ein Sachverständigen-Gutachten beantragt, ob ein menschliches Auge überhaupt so weit sehen und dann auch mehr als Umrisse erkennen kann. Vermutlich will sich das Gericht mit dem Lokaltermin das Gutachten ersparen und mit eigenen Augen prüfen, wie weit und genau die Sicht vom Dönerladen aus ist. Sich also die nötige Sachkunde erarbeiten, so heißt das bei Juristen. Aber das Gericht lässt die Szene nicht nachstellen. Da ist kein Knäuel von Menschen. Da ist eine menschenleere Straße, abgeschirmt seit Stunden von einer Hundertschaft Polizisten.

Zum Tatzeitpunkt wimmelte es hier vor Menschen, die das Stadtfest genossen und vermutlich die Sicht auf die Schlägerei verstellten. Doch das Gericht hat jetzt nur fünf Polizeischüler aufmarschieren lassen, die einsam am Tatort herumstehen, sie bewegen sich auch nicht. Im Fenster des Döner-Straßenverkaufs prüfen inzwischen Anwälte, ob sie auch zu zweit aus dem Fenster schauen können. Um 0.33 Uhr macht die Richterin Herberger das Fenster wieder zu. Um 0.45 Uhr ist alles vorbei. Das ist also der lang ersehnte Ortstermin.

Haben die Richter etwas sehen können außer den Umrissen der fünf Polizeischüler? Wurden sie von den sechs grellen Neonröhren geblendet, die direkt über dem Fenster leuchten? Dazu noch von einem Strahler, der die Ausgabe erhellt? Man erfährt es nicht. Man kann nur selbst sehen, dass es schwierig ist, gegen das Licht zu fokussieren, was dort in mehr als 50 Metern Entfernung geschieht.

Sehr lange zumindest haben sich die Richter nicht aufgehalten. Die Vorsitzende Richterin ging noch nicht einmal die 66 Schritte vom Dönerladen zum Tatort, das überließ sie den Kollegen.

Drüben auf der anderen Straßenseite zeigen Freunde des Angeklagten auf ihren Handyfotos, dass es damals viel dunkler war auf diesem Straßenabschnitt. In der Tat stehen hier neue LED-Lampen, der gesamte übrige Straßenverlauf ist viel weniger ausgeleuchtet. Aber ob das Gericht das interessiert? Ob es das überhaupt wahrgenommen hat? Dieser Ortstermin war so schnell vorbei, als wäre er nur eine Pflichtübung.

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