Wirtschaftssystem:Warum es in Lateinamerika wieder abwärts geht

Maria Nino, migrant from Honduras and part of a caravan trying to reach the U.S., rests next to her relatives in a public square as they wait to regroup with more migrants, in Tecun Uman

Der Weg in die USA ist anstrengend: Eine Frau pausiert mit ihrer Familie.

(Foto: REUTERS)

Der Kulturraum ist ein Rohstofflieferant geblieben. Das macht wenige Menschen reich und hält viele Menschen arm. Und bringt immer wieder Populisten und Diktatoren an die Macht.

Kommentar von Sebastian Schoepp

Kurze Zeit sah es so aus, als habe Lateinamerika es geschafft. Während der Nullerjahre und kurz danach schienen die meisten Länder auf dem Weg der Stabilität und Kontinuität zu sein, brachten ein beachtliches Wirtschaftswachstum hervor und gesellschaftliche Fortschritte, die Armut sank. Doch diese Phase scheint vorbei zu sein: Von Mittelamerika aus zieht eine caravana, eine Massenbewegung von Armutsflüchtlingen, in Richtung USA; auch in Venezuela haben sich Hunderttausende auf den Weg gemacht, die Mangel und Repression nicht mehr aushalten. Im einst fortschrittlichen Nicaragua werden Demonstranten auf der Straße abgeknallt. Und das große Brasilien könnte am Sonntag einen Kandidaten zum Präsidenten machen, der die schlimmsten Geister der Vergangenheit beschwört, Gewalt verherrlicht, Folter verharmlost, mit "Säuberungen" droht.

Was ist da los? Wieso kommen aus Lateinamerika wieder schockierende Bilder und Nachrichten wie in Zeiten der Diktaturen und Umstürze?

Das Wirtschaftssystem beruht auf Abhängigkeit

Die Gesellschaften Nicaraguas, Venezuelas oder Brasiliens sind zu unterschiedlich, um ein einziges Erklärungsraster über sie zu legen. Doch es sind Gemeinsamkeiten vorhanden, die in der Geschichte wurzeln: Misswirtschaft, Armut und Gewalt sind im Kern Folgen eines Wirtschaftssystems, das auf Abhängigkeit beruht, entstanden in der Kolonialzeit. Der Uruguayer Eduardo Galeano schrieb vor fast einem halben Jahrhundert, Lateinamerika sei eine Weltgegend, die sich aufs Verlieren spezialisiert habe - dieses Wort von 1971 gilt noch.

Lateinamerika ist trotz aller Versuche des Wandels ein Rohstofflieferant geblieben. Blei aus den Minen Perus, Silber aus Bolivien, Soja aus Argentinien, Rindfleisch und Erze aus Brasilien, Öl aus Venezuela und Ecuador und natürlich der tödlichste aller Rohstoffe, das Kokain, für das Mittelamerika der Korridor in die USA ist - das sind nach wie vor enorm wichtige Einnahmequellen. Reich werden durch dieses System, das man "Extraktivismus" nennt, in erster Linie kleine Eliten, das ist am Persischen Golf nicht anders als am Amazonas. Wo es Fortschritt und Industrialisierung gab, wie in Brasilien, war der Effekt nicht nachhaltig, war die Produktivität nicht stark genug, um die extreme soziale Ungleichheit aus der Welt zu schaffen, die das Hauptproblem in den bevölkerungsreichen Ländern Lateinamerikas ist und bleibt.

Solange die Einnahmen aus Ressourcen hoch sind und es etwas zu verteilen gibt, zeigt Lateinamerika seine positive Energie und seine Kraft, sein kulturelles und auch politisches Talent. Im Zuge des Rohstoffbooms kamen progressive Regierungen an die Macht, die versuchten, die Konjunktur zu nutzen, um Einnahmen zu verteilen und Wertschöpfungsketten zu etablieren. Doch ein, zwei Legislaturperioden reichen nicht aus, um zu verändern, was jahrhundertelang schieflief.

Armut und Ungleichheit erzeugen Gewalt. Es ist die extreme Kriminalität, die den Menschen zu schaffen macht. Wer in Brasilien jeden Morgen Angst hat, auf dem Weg zur Arbeit mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt zu werden; wer in Guatemala von kriminellen Banden terrorisiert wird; wer wie in Venezuela Grundnahrungsmittel nicht mehr kaufen kann - der will irgendwann handeln: Manche packen ihre Sachen, wie es die Mittelamerikaner tun; manche wählen einen Spinner. Dahinter stecken Verletzlichkeit und der dringende Wunsch, in dieser Not gesehen und ernst genommen zu werden, wie es bei der caravana ja auch der Fall ist: Sie könnte sogar die US-Zwischenwahlen beeinflussen.

Schwache staatliche Institutionen

Das parallele Auftreten vermeintlicher Heilsbringer ist typisch in einem Teil der Welt, in dem staatlichen Institutionen seit jeher schwach sind, von Willkür und Dünkel durchfault. Da hält man sich an den Clan, den Klüngel, die Familie, den Patriarchen, den Anführer, auf Spanisch Caudillo. So ein Typ ist der Brasilianer Jair Bolsonaro, der den passenden zweiten Vornamen Messias trägt. Jahrzehntelang ein Hinterbänkler, konnte er diesen Namen aus den großen Korruptionsskandalen heraushalten. Er profitiert in seiner Bigotterie vom Vormarsch der evangelikalen Kirchen, auch solche Heilsprediger. Er gefällt den Anhängern der harten Hand. Sie hoffen, er sei endlich der Mann, der mit der Drogenkriminalität aufräumt.

Natürlich wird diese Hoffnung enttäuscht werden, wenn Bolsonaro gewänne. In die Flucht geschlagen würden nicht die Gangster, die wissen sich in einem Klüngelsystem zu arrangieren. Fürchten müssen sich dann vielmehr die Gebildeten und die Nachdenklichen, die Bürgerrechtler, Schwulen, Umweltaktivisten, die Linken und die Feministinnen, die Innovativen und Erfindungsreichen, all die Menschen, die Brasilien in den letzten zwei Dekaden zu einem weltoffenen und progressiven Land gemacht haben. Gescheitert sind sie an den Strukturen - aber auch an sich selbst. Denn auch progressive Kräfte verfallen, sobald sie selbst zur Elite gehören, nur zu leicht der Versuchung, Teil des großen Bereicherungsapparats zu werden, oder einen solchen neu zu schaffen - wie im Fall Venezuelas oder der brasilianischen Arbeiterpartei.

Klare Aufteilung in Gewinner und Verlierer

Vieles an der neuen Misere Lateinamerikas ist hausgemacht - doch nicht alles. Es ist kaum möglich, isoliert in einem Land die Kehrtwende zu schaffen, solange es ein Weltwirtschaftssystem gibt, das die Welt klar in Gewinner und Verlierer einteilt. Solange die westlichen Industrieländer und China Preise, Produktionsbedingungen und Handelsströme diktieren und bequem mit korrupten Eliten paktieren, werden die Menschen in Rohstoffländern jede Schwankung wirtschaftlich und politisch schmerzhaft zu spüren bekommen. Das ist in Lateinamerika nicht anders als in Afrika oder dem Nahen Osten, in all jenen Gegenden der Welt also, die jetzt der Ursprung der caravanas von Flüchtlingen sind. Es sind Menschen, die ihre Teilhabe am Reichtum einfordern, für den sie den Schmierstoff liefern.

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