Bosnienkrieg:Was das Karadžić-Urteil für Bosnien bedeutet

Radovan Karadžić ist politisch verantwortlich für die Gräuel des Bosnienkriegs. Unter bosnischen Serben gilt er als Lichtgestalt. Kann das Urteil in Den Haag zu einer Aussöhnung beitragen?

Interview von Rebecca Barth

SZ: Heute wird das Urteil des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen Radovan Karadžić erwartet. Die Anklage fordert lebenslänglich, Karadžić plädiert auf Freispruch. Welche Bedeutung hat das Urteil für die Balkan-Länder?

Ulf Brunnbauer: Am stärksten wird das Urteil sicherlich in Bosnien-Herzegowina wahrgenommen werden. Es würde alle Prozessbeobachter überraschen, wenn Karadžić nicht zu einer sehr langen Haftstrafe verurteilt werden würde. Für die Rezeption vor Ort ist interessant, wofür genau er verurteilt wird. Die juristisch spannendste Frage ist, ob der Anklagepunkt des Genozids so aufrechterhalten werden kann. Das wird für die Wahrnehmung in Bosnien-Herzegowina ganz relevant sein. Ich denke, außerhalb Bosniens wird das Urteil gar nicht mehr so stark wahrgenommen. Besonders wenn man da an die Republik Serbien denkt.

Zur Person

Joseph E. Stiglitz, 73, ist Wirtschaftsprofessor an der Columbia University in New York und Chefökonom des politisch linksgerichteten Roosevelt-Instituts. Im Jahr 2001 wurde er mit dem Wirtschafts-Nobelpreis ausgezeichnet.

Als Karadžić 2008 verhaftet wurde, kam es zu Zusammenstößen zwischen serbischen Nationalisten und der Polizei. Karadžić wird dort teilweise noch als eine Art Volksheld verehrt, die Leute in Sarajevo hingegen haben auf der Straße gefeiert.

So etwas ist durchaus für heute auch zu erwarten. Vielleicht nicht im Sinne von Zusammenstößen, aber in Bosnien-Herzegowina wird die muslimische und kroatische Bevölkerung feiern, wenn es zu einer lebenslangen oder sehr langen Haftstrafe kommt, was abzusehen ist. Aber selbst das kann gedrückt werden, wenn Karadžić nicht doch wegen Genozids verurteilt wird. Das erwartet die bosniakische Bevölkerung. Auf der Seite der Serben in der Republika Srpska zeichnet sich bereits ab, dass eine Verurteilung Karadžićs als ein weiterer Anschlag, als Teil einer internationalen Verschwörung gegen das serbische Volk wahrgenommen wird.

From the Files: Bosnia War Leader Karadzic facing genocide charges

Karadžić in Den Haag.

(Foto: REUTERS)

Welche Bedeutung hat Karadžić für die bosnischen Serben?

Vor einigen Tagen hat beispielsweise der Präsident der Republika Srpska Milorad Dodik gemeinsam mit der Frau und Tochter von Karadžić ein Studentenwohnheim in Pale eröffnet, welches auch den Namen Radovan Karadžić trägt. Dabei hat Dodik auf die bedeutende Rolle Karadžićs als erster Präsident der Republika Srpska hingewiesen. Das gibt den Ton der öffentlichen Debatte ganz gut wieder.

Wie erklären Sie sich die Glorifizierung dieses vermutlichen Kriegsverbrechers in dieser Teilrepublik Bosnien-Herzegowinas?

Als Historiker würde ich zunächst das "vermutlich" streichen. Die historischen Befunde und das, was das Kriegsverbrechertribunal bisher zutage gefördert hat, zeigen ganz klar, dass Radovan Karadžić die politische Verantwortung für die von serbischen Truppen im Bosnienkrieg begangenen Kriegsverbrechen trägt. Was das juristisch bedeutet, ist eine andere Frage. Aber für einen Historiker ist der Sachverhalt eindeutig.

Innerhalb der serbischen Bevölkerung und innerhalb dieses Teilstaates gibt es jedoch keinerlei Bereitschaft, sich mit den eigenen Verbrechen und der eigenen Schuld auseinanderzusetzen. Man pflegt ein Opfernarrativ, versucht den Genozid von Srebrenica und andere grausame Verbrechen kleinzureden und zu leugnen, obwohl dies selbst für einen überzeugten Nationalisten kaum mehr möglich ist. Aber es wird als Reaktion auf muslimische Verbrechen dargestellt und als deutlich kleiner als tatsächlich geschehen. Das ist das politische Kleingeld auf der die Macht des Präsidenten Dodik in der Republika Srpska beruht.

Nationalismus und alte Feindbilder als einzige Antwort

Woher kommt der Nationalismus in der Republika Srpska, der die Serben daran hindert, sich mit der eigenen Geschichte kritisch auseinanderzusetzen?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Zum einen wird die Medienlandschaft in der Republika Srpska mittlerweile so stark staatlich kontrolliert, dass man dort kein repräsentatives Abbild der öffentlichen Meinung bekommt. Außerdem ist sie ein kleiner armer Pseudostaat. Ein großer Teil der Elite hat das Land im Zuge des Krieges verlassen. Salopp gesagt sind da nicht immer die hellsten Köpfe übrig geblieben und die zentralpolitischen Akteure haben nur extrem nationalistische Rhetorik anzubieten.

Ansonsten haben sie für die Bevölkerung nicht viel geleistet. Deswegen versuchen sie antimuslimische, antikroatische Feindbilder zu pflegen, eine Vorstellung aufrecht zu erhalten, die Serben seien einer permanenten Bedrohung durch den "islamischen Fundamentalismus" oder den "kroatischen Faschismus", wie sie das nennen, ausgesetzt. Auch die internationale Gemeinschaft, die USA, Deutschland oder der Vatikan, alle seien den Serben übel gesonnen. Nur die regierende nationalistische Partei sei imstande, die Serben vor noch größerem Unheil zu bewahren. In diesem Weltbild hat sich ein großer Teil der serbischen Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina eingerichtet, besonders die politische Elite.

So wie Sie das erklären, funktionieren diese alten Feindbilder heute aufgrund einer schwachen sozio-ökonomischen Situation. Weshalb haben dieselben Feindbilder bereits zu Beginn der Balkankriege funktioniert?

Um diese Frage zu beantworten, müsste man eine ganze Vorlesungsreihe abhalten. Das Interessante ist, dass noch Ende der 80er, als Jugoslawien sich bereits in einer tiefen politischen Krise befand, und selbst 1990, als sich schon die ersten klaren Auflösungstendenzen zeigten, aus Umfragen bekannt ist, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen die zwischenethnischen Differenzen als unproblematisch bezeichnet hat. Nur im Kosovo gab es schon Ende der 80er starke Antipathien zwischen Albanern und Serben.

Wie konnte die Situation damals so schnell eskalieren?

Ich denke, der Grund dafür liegt in der Gewalt. Um klare Grenzen entlang ethnischer oder religiöser Gruppen zu ziehen, braucht es keine Massenbewegung, sondern Gruppen, die bereit sind, Gewalt anzuwenden und gezielt andere Menschen aus dem Grund angreifen, weil sie Muslime sind oder Serben oder Kroaten. Dadurch wird ein Gefühl der Bedrohung bei diesen Gruppen ausgelöst. Innerhalb dieser Dynamik bleibt einem oft nichts anderes übrig, als sich als Serbe oder Kroate oder Bosniake zu verstehen und zu verhalten. Denn alles andere könnte einen in eine lebensgefährliche Situation bringen.

Aber es ist falsch zu glauben, dass dieser antimuslimische oder antiserbische Hass eine Kraft ist, die über Jahrhunderte wirkte. Das ist etwas, was vor allem durch und im Krieg entstanden ist.

Was wird in den Ländern für die Aussöhnung nach den Gräueltaten dieser äußerst brutalen Kriege gemacht?

Es gibt unzählige Programme der internationalen Gemeinschaft, von NGOs, von Kirchen. Die Bilanz ist, vorsichtig ausgedrückt, eher mau. Das Problem in Bosnien ist hier die Verfassungsstruktur. Das Land ist dezentralisiert, die Republika Srpska ist ein Staat im Staat und kann alle Entscheidungen im Land blockieren. Die Verfassung schreibt zudem einen gewissen ethnischen Proporz vor.

Man muss sich daher als Bosniake oder Serbe oder Kroate verstehen, um überhaupt am politischen Leben teilnehmen zu können. Das verstärkt die Abgrenzung und nicht die Integration. Darüber hinaus sind die ökonomischen Perspektiven trübe, auch die europäischen Perspektiven sind aufgrund der Selbstblockade der Politik äußerst unrealistisch. Im Land würde es allen besser gehen, wenn das Land Teil der Europäischen Union wäre. Aber der Reformbedarf ist so enorm und der Reformwille so gering, dass ich nicht davon ausgehe, dass wir das bald erleben werden.

Hat das heutige Urteil eine Auswirkung auf den Aussöhnungsprozess?

Das Urteil gegen Karadžić wird auf die Aussöhnung zwischen den ethnischen Gruppen keine Auswirkung haben. Es ist für die Opfer relevant, kann für sie eine gewisse Wiedergutmachung moralischer Art sein. Aber im politischen Leben wird das Urteil keinen Einfluss haben. Es wird eher die schon bestehenden Wahrnehmungen bestärken.

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