Brexit-Verhandlungen:Was die EU Johnson anbieten könnte

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  • In Brüssel geht man davon aus, dass der neue britische Premier Johnson die EU erneut um eine Verschiebung des Austrittsdatums bitten wird.
  • Hinter den Kulissen wird zudem an einem Plan gearbeitet, der es Johnson erlauben könnte, im Ringen um den Brexit als vermeintlicher Sieger dazustehen.
  • Johnson die Hand zu reichen, ist nur eine Herausforderung, vor der die EU steht. Die andere ist es, die Einheit unter den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu wahren.

Von Matthias Kolb und Alexander Mühlauer, Brüssel

Vor ein paar Tagen lief im britischen Fernsehen eine Dokumentation über den Brexit. Das wäre an sich nicht weiter der Rede wert, hätte da nicht Michel Barnier einen Satz gesagt, der in dieser Deutlichkeit noch nie öffentlich zu hören war. Der Brexit-Chefunterhändler der Europäischen Union erklärte in der BBC unumwunden, dass die EU-Staaten "nie von den britischen Drohungen beeindruckt" gewesen seien, die Gemeinschaft ohne einen Vertrag zu verlassen. Wenn also jetzt der neue britische Premierminister Boris Johnson glaubt, die EU mit der Warnung vor einem No-Deal-Szenario in die Enge treiben zu können, dürfte er sich getäuscht haben. Aus Brüssel hieß es nach der Wahl Johnsons ziemlich eindeutig: "Die EU ist auf einen harten Brexit vorbereitet. Das lässt sich vom Vereinigten Königreich nicht behaupten."

Schon allein deshalb geht man in Barniers Team davon aus, dass Johnson keine andere Wahl haben dürfte, als die Europäische Union erneut um eine Verschiebung des Austrittsdatums zu bitten. Was nicht heißt, dass es vor dem 31. Oktober, dem bisher geplanten Brexit-Tag, nicht gehörig Drama geben könnte. In Brüssel rechnet man damit, dass der neue Premierminister alles versuchen wird, um mit der EU-27 einen Deal zu erreichen. "Johnson ist absolut prinzipienlos", sagt ein hochrangiger EU-Diplomat. Insofern sei mit ihm alles oder nichts möglich. Und nur eines sei wohl klar: "Johnson will so lange wie möglich Premierminister bleiben - diesem Ziel dürfte er alles andere unterordnen."

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Insbesondere die Iren hoffen, dass die EU-Staaten ihre Soldarität bewahren

Hinter den Kulissen wird in Brüssel bereits an einem Plan gearbeitet, der es Johnson erlauben könnte, als vermeintlicher Sieger vom Platz zu gehen. Da wäre zum einen die Summe, die Großbritannien der EU im Fall eines Austritts schuldet. Als Johnsons Vorgängerin Theresa May den offiziellen Austrittsbrief am 29. März 2017 in Brüssel einreichte, war von 60 Milliarden Euro die Rede. Nun, mehr als zwei Jahre später, liegt sie bei gut 40 Milliarden Euro. Je länger der Austrittsprozess dauert, desto geringer werden die Verbindlichkeiten. Der laufende EU-Haushaltsrahmen, zu dem sich Großbritannien verpflichtet hat, endet am 31. Dezember 2020. Bis dahin werden die britischen Schulden gegenüber der EU weiter sinken. Johnson könnte diesen Automatismus für seine Zwecke nutzen und behaupten, er habe dafür gesorgt, die Geldforderungen der EU zu drücken. Das wäre, so hofft man in Brüssel, keine schlechte Story für den begnadeten Verkäufer und Selbstdarsteller Johnson.

Die Brüsseler Verhandler sind außerdem dazu bereit, so zu tun, als gebe es einen Neustart mit Mays Nachfolger in London. Von der offiziellen Linie, dass man den mit der britischen Vorgänger-Regierung fertig verhandelten Austrittsvertrag nicht mehr aufschnüren will, wird man zwar nicht abweichen. Aber es gibt durchaus Kniffe, die Johnson zu Hause als Erfolg lobpreisen könnte. So bietet die politische Erklärung, die dem Vertrag beigefügt wird, genügend Platz für allerlei vielversprechende Bekundungen, was das künftige Verhältnis betrifft. Und was die umstrittene Notfalllösung für die Grenze zwischen Irland und Nordirland angeht, so hofft man in Brüssel, dass die Debatte sich von selbst erledigt, wenn Johnson sich für ein Modell entscheidet, das endlich Klarheit schafft, wie die Beziehung zwischen der Europäischen Union und Großbritannien künftig aussehen soll.

Johnson die Hand zu reichen, ist die eine Herausforderung, vor der die EU steht. Die andere ist es, die Einheit unter den verbleibenden 27 Mitgliedstaaten zu wahren. Insbesondere die Iren hoffen, dass die Solidarität weiter anhält. Das gilt auch für den Fall eines No-Deal-Brexit. So könnten etwa besonders betroffene Wirtschaftszweige und Regionen im Ernstfall Finanzhilfe erhalten - allen voran in Irland. Die Notfallpläne liegen bereits in den Schubladen. Aus Sicht der EU gilt es vor allem den noch immer fragilen Frieden zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland zu erhalten; dies betont auch von der Leyen zur Freude Dublins regelmäßig.

Für die EU wird es in den kommenden Monaten auch darum gehen, die Contenance zu bewahren. Wie schwierig das ist, zeigen jüngste Äußerungen von Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans. Die britischen Verhandler seien "wie Idioten umhergelaufen", sagte der Niederländer. Er habe gedacht: "Oh mein Gott, sie haben keinen Plan. Sie haben keinen Plan." Am Dienstag war Timmermans hingegen darum bemüht, nicht noch mehr mit dem Feuer zu spielen. Er bezeichnete den Brexit als "Tragödie", bei der am Ende alle leiden würden. Der Holländer klang da schon fast wie Barnier, den Juncker zum Chefverhandler benannt hatte. Ob er das auch unter von der Leyen bleibt, ist offen. Die Deutsche schätzt den Franzosen. In Brüssel gibt es aber auch Spekulationen, dass Timmermans ein Auge auf das Brexit-Portfolio geworfen haben soll.

© SZ vom 24.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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