Blick aus dem Ausland:Merkels neun Leben

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Von Deutschland wünschen sich die europäischen Partner Stabilität. Sie hoffen, dass die deutsche Regierungschefin auch diese Krise überstehen wird.

Von C. Kahlweit, C. Schlötzer, D. Brössler, O. Meiler, P. Münch, T. Zick, T. Urban

Im Mittelpunkt: Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfeltreffen in der vergangenen Woche in Brüssel. (Foto: Geert Vanden Wijngaert/dpa)

Ein wenig übertrieben hat Angela Merkel wohl, als sie im CDU-Vorstand sagte, in Brüssel brauche sie sich "nicht mehr blicken zu lassen", wenn sie den Forderungen von Horst Seehofer in der Flüchtlingspolitik nachkomme. Die Regierungschefin des wirtschaftsstärksten und bevölkerungsreichsten EU-Staates kann sich in Brüssel natürlich immer blicken lassen. Sie hat schon allein aufgrund ihrer Seniorität eine Sonderstellung. Niemand im Kreis der Kollegen ist auch nur annähernd so lange im Amt wie sie.

Europa schaut dieser Tage gebannt und mit auffallend wenig Häme auf die Regierungskrise in Deutschland. Zu viel steht auf dem Spiel, auch für die Partner in Brüssel, Rom und Paris. Groß ist das Interesse daran, den vergangene Woche auf dem EU-Gipfel gefundenen Kompromiss gemeinsam mit Merkel umzusetzen.

Die Bundeskanzlerin selbst packt ihre Haltung in der Flüchtlingspolitik in einen Dreiklang: "Nicht unilateral, nicht unabgestimmt und nicht zulasten Dritter." Zwar verurteilen Merkels Gegner die Entscheidung, die Grenzen nicht für Flüchtlinge zu schließen, wie sie es im Jahr 2015 getan hat, gerne als einseitige Maßnahme. Viele in Europa aber haben nicht vergessen, dass die Bundeskanzlerin ihnen noch größere Probleme erspart hat, indem sie dem Druck zu einer einseitigen Grenzschließung widerstand. Mit der Entscheidung, bereits registrierte Asylbewerber an deutschen Grenzen abzuweisen, wie Seehofer es fordert, würde Merkel ihre Politik ad absurdum führen und in Brüssel beträchtlich an Glaubwürdigkeit verlieren. Diese Glaubwürdigkeit lebte bislang auch davon, dass Deutschland als stärkstes EU-Land zwar seine Interessen vertritt, aber nicht so brachial wie manch andere.

Für Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron verstärkt das Ringen der Union in Deutschland nun die Dynamik, die sich bereits seit Monaten zwischen Berlin und Paris aufschaukelt. Schon seit seinem Amtsantritt macht der Präsident der Kanzlerin ihre Führungsrolle auf dem Kontinent streitig, Merkels zögerliche Antwort auf seinen Vorstoß zur Neubelebung der EU und des Euro hat diese Wahrnehmung befeuert. Zugleich braucht Macron eine Mitstreiterin in Berlin, um seine Pläne voranzutreiben. Schon vor dem EU-Gipfel hatte er ihr den Rücken gestärkt, indem er den Gedankenspielchen des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz von einer "Achse der Willigen", von Rom über Wien bis ins CSU-geführte Innenministerium in Berlin, eine Absage erteilte.

Macron stärkt der Kanzlerin zwar den Rücken, in der Sache steht er aber Seehofer nahe

Doch so proeuropäisch Macron sich beim Thema Migration gibt, in der Sache ist er nicht so weit von der Seehofer-Linie entfernt. Er lehnt das Anlanden von Flüchtlingsschiffen in französischen Häfen ab. Frankreich sei "kein Erstaufnahmeland". Macon lässt Flüchtlinge zu Zehntausenden an die italienische Grenze zurückschicken, und er will Auffanglager für Flüchtlinge schaffen, die bereits EU-Boden betreten haben. Solche "kontrollierten Zentren" will er nicht in Frankreich, sondern in Spanien, Griechenland oder Italien.

Die Italiener blicken mit einer gewissen Erfahrung auf die langen Nächte in Berlin. Sie sind ja selbst Experten in Sachen Regierungskrise. Auf die Probleme reagiert das Land alles andere als herablassend. "Die Krise bedeutet nicht das Ende Angela Merkels", ist sich La Stampa sicher. Sie habe neun Leben, und man wisse nicht, bei welchem sie angelangt sei. Dennoch beschreibt das Blatt auch eine Verunsicherung: "Das ist das Ende der deutschen Stabilität, die dem instabilen Europa bislang Halt gab."

In Spanien herrscht Erstaunen über das Durcheinander in Berlin

Von Schadenfreude sind auch die Briten weit entfernt, wenn sie nach Deutschland blicken, dazu ähnelt die Lage von Premierministerin Theresa May der ihrer deutschen Kollegin zu sehr: Regierungskrise, Ärger mit der eigenen Parteifamilie, Gerüchte über Rücktritt oder Sturz. Folgerichtig beschreiben die Medien den Kampf zwischen Merkel und Seehofer so hintersinnig, als ginge es in Wahrheit um den Kampf Mays gegen ihre schärfsten Widersacher bei den Tories; der Guardian etwa nennt den CSU-Chef Merkels "Nemesis in der Regierung", bezeichnet seinen möglichen Rücktritt aber nur als "Atempause".

In Spanien herrscht Erstaunen über den Konflikt in Deutschland, die meisten Kommentatoren sehen aber die Bundesregierung nicht gefährdet. Merkel führt in allen Umfragen die Beliebtheitsskala der ausländischen Politiker an. Der neue sozialistische Premierminister Pedro Sánchez hat erst jüngst in Berlin die Hoffnung geäußert, dass die Bundesregierung weiter zur Stabilität in Europa beitragen werde.

Beistand für Berlin kommt auch aus Athen: Der griechische Premier Alexis Tsipras hat Angela Merkel erst vor wenigen Tagen ausdrücklich wegen ihrer Flüchtlingspolitik gelobt. Tsipras erklärte sich bereit zu einer bilateralen Vereinbarung mit Berlin, die es Deutschland leichter machen würde, Flüchtlinge, die schon in Griechenland registriert wurden, zurückzuschicken. Dafür wird der Premier und Chef der Linkspartei Syriza von der größten griechischen Oppositionspartei, der konservativen ND, heftig kritisiert.

Ungarns Premierminister Viktor Orbán ist nicht als Freund von Angela Merkel bekannt, aber er ist bekannt dafür, dass er durchzieht, was er vorhat. Am Donnerstag steht ein Treffen mit Merkel in Berlin in seinem Kalender, und den Wirren zum Trotz sieht er keinen Anlass, die Reise infrage zu stellen. "Es gibt offensichtlich viel zu bereden", sagt sein Regierungssprecher Zoltán Kovács. In der Migrationspolitik hat sich Ungarns Regierungschef immer schon gern als Gegenspieler von Merkel profiliert, und genauso gern haben Seehofer und seine CSU beim Spiel über die Bande Orbán dafür hochleben lassen. Als Einmischung in innere deutschen Angelegenheiten will das in Budapest niemand verstanden wissen. Orbán hat die Kanzlerin auch nach dem EU-Gipfel im Regen stehen lassen. Merkels Aussage, sie habe auch mit Ungarn verabredet, ein Abkommen zur beschleunigten Rückführung von Flüchtlingen zu schließen, ließ er dementieren. Nicht einmal von einem Missverständnis will Orbán sprechen. "Wer die ungarische Position kennt weiß, dass es hier nicht viel zu reden gibt", sagt sein Regierungssprecher.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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