Außenansicht:Mitschuldig

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Karl-Otto Zentel, 57, ist Afrikanist und Islamwissenschaftler und seit 2012 Generalsekretär der Hilfsorganisation Care Deutschland. (Foto: privat)

Die humanitäre Katastrophe in Jemen ist menschengemacht. Die Welt darf dem Krieg dort nicht länger zusehen.

Von Karl-Otto Zentel

Die Frau schrie aus tiefster Seele. Sie hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen, und jetzt war auch nichts mehr übrig für ihre Kinder. Es waren der Hunger und die pure Verzweiflung, die diese Mutter dazu brachten, mich anzubrüllen. Sie hatte alles Recht dieser Welt, das zu tun. Ich traf sie in Amran, im Norden Jemens. Hier herrscht derzeit eine humanitäre Katastrophe unbegreiflichen Ausmaßes: Seit 2015 wütet ein Bürgerkrieg. Es ist für die wenigen Hilfsorganisationen, die noch vor Ort sind, eine der komplexesten und gefährlichsten Operationen weltweit. Und es ist eine menschengemachte Katastrophe.

Jemen droht eine Hungersnot. Die Klassifizierung einer solchen verläuft nach Kriterien, die das menschliche Leid, die leeren Mägen und geschwächten Körper, nur erahnen lassen: Eine Hungersnot wird ausgerufen, wenn mindestens 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt sind. Wenn darüber hinaus täglich mindestens zwei von 10 000 Menschen verhungern. Und wenn mindestens einer von fünf Haushalten unter extremem Nahrungsmangel leidet. In diesen Tagen sammelt ein Expertenteam in Jemen landesweit Datenmaterial. Wenn die Ergebnisse veröffentlicht werden, wird die Welt kurzzeitig wieder auf Jemen blicken. Wie letztens, als die New York Times das Bild eines verhungernden Mädchens auf die Titelseite brachte.

Weit über 10 000 Menschen in Jemen sind bereits im Krieg gestorben. Millionen befinden sich innerhalb des Landes auf der Flucht. Vor einem Jahr waren über acht Millionen Menschen von Hunger bedroht. Heute sind es 14 Millionen. Wie viele sollen es 2019 noch werden? Jede einzelne Ziffer dieser unbegreiflichen Zahlen ist eine Anklage an die Kriegsparteien und an die internationale Gemeinschaft. Der Hunger, das Leid, der Tod in Jemen: Sie sind das Werk von Menschen. Sie sind die tödlichen Folgen von politischem Machtpoker und mangelndem internationalen Druck auf die Kriegsparteien, sich endlich an die Friedenstische zu setzen. Im September waren Friedensgespräche zwischen den schiitischen Huthi-Rebellen und der jemenitischen Regierung gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatten.

Es gibt Nahrungsmittel im Land, aber eine massive Inflation der lokalen Währung in den vergangenen Monaten hat zur Folge, dass sich Hunderttausende Familien schlichtweg nicht mehr genügend Nahrungsmittel leisten können. Zudem zahlt der Staat seinen Bediensteten seit Monaten keine Gehälter mehr. Das betrifft Lehrer, Ärztinnen und viele andere Berufsgruppen. Der Preis für Speiseöl ist in den vergangenen Monaten um rund 200 Prozent gestiegen. Es gibt Frauen, die nur noch einen Löffel Öl pro Tag zu sich nehmen. Um das Leben ihrer Kinder zu retten, essen sie oft als letzte. Falls noch etwas übrig bleibt.

Warum springen die Hilfsorganisationen nicht ein? Das tun wir. Aber dabei kämpfen die Logistiker vor Ort gegen erhebliche Widerstände: Die Einfuhr von Hilfsgütern ist durch die Schließung wichtiger Flug- und Seehäfen erheblich erschwert. Diese Kriegstaktik ist tödlich: Das Land ist für 90 Prozent der Güter auf Importe angewiesen. Es mangelt selbst an Treibstoff, und die Preise steigen weiterhin massiv. Überlandtransporte sind aufwendig und gefährlich. Man fährt tagelang über fast unpassierbare Bergkämme, um abgeschiedene Gemeinden zu erreichen. Die Sicherheitsvorkehrungen, die getroffen werden müssen, um das Ziel zu erreichen, sind erheblich.

Und wenn wir dann schließlich eine Verteilung von Nahrung oder Bargeld organisieren können - Geld ist häufig die bessere Wahl, weil Familien dann selbst entscheiden können, welche Nahrung und Medikamente sie am dringendsten benötigen - dann müssen wir oft wochenlang auf eine Sicherheitsgarantie von den Kriegsparteien warten. Ohne diese Garantien sind Hilfsgüterverteilungen lebensgefährlich für die Bevölkerung und die Helfer. Immer wieder werden Menschenansammlungen beschossen, beide Kriegsparteien greifen zivile Einrichtungen an. Das humanitäre Völkerrecht, das solche Angriffe ahndet, wird in Jemen Tag für Tag gebrochen.

Auch nach 30 Jahren in der Nothilfe gibt es keine Routine angesichts dieses Leids

Hodeida, die wichtigste Hafenstadt Jemens, wurde bis vor Kurzem schwer umkämpft. Erst vergangene Woche wurde eine Großoffensive vorübergehend gestoppt. Die Märkte und Geschäfte sind seit Monaten geschlossen. In der Nähe des Hafens von Hodeida befinden sich auch die wichtigsten Getreidespeicher des Landes. Im September importierte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen mehr als 157 500 Tonnen Nahrungsmittel über den Seeweg. Ein großer Teil davon ist Getreide, es wird ungemahlen nach Jemen geliefert, da es so länger haltbar ist. Nun haben trotz internationaler Appelle die Kämpfe um die Stadt in dieser Woche wieder zugenommen. Wenn Hodeida belagert wird, könnte der Rest des Landes von sämtlichen Nahrungsmittelimporten abgeschnitten werden. Falls die Mühlen zerstört werden, kann kein Mehl mehr hergestellt werden. Derzeit gibt es nur noch eine offene Straße nach Hodeida. Bereits jetzt sind viele Getreidesilos in der Stadt durch die Kampfhandlungen verriegelt und unerreichbar.

An Orten wie diesen, an denen man den Glauben an die Menschlichkeit verliert, steht die Tatkraft der lokalen und internationalen Helfer in einem unerträglichen Kontrast zur immer weiter andauernden Kriegssituation und der Gleichgültigkeit der Konfliktparteien gegenüber dem Leid der Menschen. Die internationale Gemeinschaft darf dieses Leid nicht weiter hinnehmen. Deutschland, die EU und die Mitglieder des Sicherheitsrats haben diplomatische und wirtschaftliche Druckmittel, um einen Waffenstillstand mit Nachdruck einzufordern. Geschieht dies nicht, machen wir uns mit jedem weiteren Tag, an dem Menschen in Jemen durch Angriffe sterben oder verhungern, mitschuldig. Denn seit Langem ist offensichtlich, dass es keine militärische Lösung für diesen Krieg gibt. Worauf warten wir dann? Dass die Konfliktparteien irgendwann so erschöpft vom Kämpfen sind, dass sie aus Mangel an Alternativen miteinander reden?

Seit wenigen Wochen bin ich zurück in Deutschland. Seitdem verfolgen mich die Eindrücke aus Jemen, das Bild der schreienden Mutter. Ich arbeite seit 30 Jahren in der internationalen Nothilfe und habe mir in dieser Zeit Mechanismen angewöhnt, mit dem Anblick von Elend umzugehen. Aber die Wut über das menschengemachte Leid in Jemen, die Inkaufnahme des Todes von Tausenden unschuldigen Menschen - diese Wut fühlt sich gerade alles andere als routiniert an.

© SZ vom 23.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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