Armut:Die neue alte soziale Frage

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Arm, bettelarm, bildungsarm: Die neue Unterschicht wächst. Notwendig ist eine konzertierte Aktion von Bildungs- und Sozialpolitik. Kindergarten und Schulen müssen Schicksalskorrektoren für alle Kinder werden, die bei der Lotterie der Chancen im reichen Deutschland die Nieten gezogen haben.

Heribert Prantl

"Man muß dafür sorgen, dass der Gegensatz der Reichen und Armen sich möglichst ausgleicht": Der Satz stammt nicht von Merkel, Müntefering oder Kurt Beck, sondern vom alten Aristoteles. Er hat klarer gedacht als die große Koalition - die sich nun plötzlich darüber zu wundern beginnt, dass es eine neue, wachsende Unterschicht gibt in Deutschland. Am Boden dieser Unterschicht herrscht Verwahrlosung, die leider immer erst dann beklagt wird, wenn ein Kind daran gestorben ist.

Kinderarmut in Deutschland: meist ein Schicksal fürs Leben. (Foto: Foto: ddp)

In einem der reichsten Länder der Welt wächst die Diskrepanz zwischen Arm und Reich; der vormalige Generalbundesanwalt Kay Nehm hat kurz vor Ende seiner Amtszeit vor dem "Auseinanderdriften der Gesellschaft" gewarnt, das den inneren Frieden gefährden könne.

So ist es: Es gibt eine Rutsche in die Armut, genannt Hartz IV, und es gibt es eine gewaltige Angst davor, dass man sich auf einmal selbst darauf befinden könnte. Es gibt, auch in der Mittelschicht, eine Anhäufung von Unzufriedenheit, durchwirkt von Existenzangst. Die innere Gewissheit, dass es in einer Leistungsgesellschaft jeder nach oben schaffen und sich dann auch oben halten kann, wenn er nur begabt und fleißig ist, ist dahin - auch in einem Teil des Mittelstandes. Man frage die Handy-Ingenieure von BenQ und ihre Familien.

Die neue Unterschicht wächst: Die Bildungsoffensive der siebziger Jahre, als die Kinder kleiner Leute zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das Bafög knüpfte, nach oben kletterte, ist Vergangenheit; die Strickleiter ist eingezogen, das Projekt sozialer Aufstieg zu Ende, die deutsche Gesellschaft verändert sich wieder hin zur Klassengesellschaft. Das System ist semipermeabel geworden, durchlässig nur noch in eine Richtung - nach unten.

In Deutschland redet man vom starken Staat, wenn es um mehr Polizei geht. Dahinter steht ein sehr enges Verständnis von inneren Sicherheit. Leider redet kaum jemand vom starken Staat, wenn es um die notwendige Verknüpfung von Sozial- und Bildungspolitik geht.

Wenn die nicht funktioniert, drohen der Sturz des neuen "Prekariats" in die Apathie (soweit es sich nicht schon dort befindet) und die Hinwendung zum Extremismus. Im skandinavischen Raum zählt das Bildungssystem zu den "Social Services", zu den Institutionen des Wohlfahrtsstaates; der Kulturföderalismus in Deutschland bildet hierfür immer noch eine Wahrnehmungsschranke.

Notwendig ist eine neue konzertierte Aktion: von Kinder- und Jugendhilfe, Bildungs- und Sozialpolitik. Kindergarten und Schule müssen zu Schicksalskorrektoren für alle Kinder werden, die bei der Lotterie der Chancen im reichen Deutschland die Nieten gezogen haben. Das ist eine Aufgabe für eine große Koalition; gut, dass sie das Problem Unterschicht wenigstens sieht: Nichts kann geheilt werden, bevor es erkannt worden ist - auch eine alte Erkenntnis; nicht von Aristoteles, sondern vom Kirchenvater Irenäus.

© SZ vom 16.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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