Anschläge in Norwegen:"Ich bringe euch alle um"

Der Attentäter fuhr mit einem silbergrauen Wagen vor, gab sich als Polizist aus und schoss dann wahllos Jugendliche nieder: Nach dem Doppelanschlag in Norwegen mit 76 Toten melden sich immer mehr Augenzeugen mit schockierenden Berichten zu Wort. So entsteht nach und nach ein klareres Bild vom Vorgehen des Täters - und von jenem Tag, der ein Land verändern wird.

Protokoll einer Tragödie

Nach den beiden Anschlägen auf das Osloer Regierungsviertel und ein Jugendcamp steht Norwegen unter Schock. Die Taten mit 76 Todesopfern seien eine "nationale Tragödie", sagte Regierungschef Jens Stoltenberg. "Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg ist unser Land von einem Verbrechen dieses Ausmaßes getroffen worden". Die Polizei macht Anders Behring Breivik, einen festgenommenen christlichen Fundamentalisten, für die beiden Attentate verantwortlich. Nach und nach entsteht ein klareres Bild vom Vorgehen des Täters - und von einem Tag, der ein Land verändern wird.

Als am Freitag um 15.20 die Innenstadt von Oslo bebt, denken viele eine Sekunde lang an ein Erdbeben. Doch der laute Knall spricht gegen eine Naturkatastrophe. Schnell wird klar: Im Herzen von Oslo, zwischen Akersgata und Grubbegata, gab es eine Explosion. Hier befinden sich Regierungssitz und Ministerien sowie die Redaktionen von mehreren Zeitungen und Fernsehsendern. Auch das Parlament ist nicht weit entfernt.

Die Wucht der Explosion hat mehrere Gebäude aufgerissen. In dem 17-stöckigen Hochhaus, in dem Ministerpräsident Jens Stoltenberg und seine Regierung arbeiten, sind die meisten Fenster zerstört. Der Platz, auf dem die Bombe explodierte, ist mit verbogenem Metall und Glasscherben bedeckt. Die Straße ist mit Dokumenten übersät, die aus den umliegenden Gebäuden geflogen sind. Rauchwolken steigen auf, es herrscht Chaos. Blutende Menschen werden weggeführt oder -getragen, man spricht von zwei, später von sieben Toten.

Augenzeugen vermuten angesichts eines verkohlten Autowracks eine Autobombe, die Polizei bestätigt schnell, dass eine oder mehrere Sprengsätze die Explosion ausgelöst hat. Sie sperrt die Innenstadt ab, später werden auch der Hauptbahnhof und mehrere Einkaufszentren geräumt. Gerüchte um eine zweite Bombe machen die Runde. Am Osloer Flughafen Gardermoen kontrollieren bewaffnete Polizisten alle ankommenden und abfahrenden Autos, der Flugbetrieb läuft aber weiter.

Noch nicht einmal zwei Stunden nach der Detonation gibt es einen Eintrag in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Unter dem Titel "2011 Oslo explosion" tragen User Fakten, Gerüchte und Verweise auf Internetseiten zusammen. Hat sich al-Qaida für Norwegens Beteiligung am Afghanistankrieg gerächt?

Während die norwegische Öffentlichkeit sich entsetzt fragt, wer hinter dem Anschlag steckt, wird die nächste Schreckensnachricht bekannt. Nur wenige Stunden nach der Explosion richtet ein Mann bei einem politischen Jugendlager auf der Insel Utøya ein Blutbad an. Die Insel liegt etwa 40 Kilometer nordwestlich von Oslo im Tyrifjord-See.

Am späten Freitagnachmittag fährt der Mann in einem silbergrauen Wagen vor und gibt sich als Polizist aus, erzählt ein Wachmann später. "Er steigt aus dem Auto aus und zeigt seinen Ausweis", schildert er der Tageszeitung Verdens Gang. "Er sagt, er sei geschickt worden, um die Sicherheit zu überprüfen. Dass das eine reine Routine sei nach dem Terroranschlag in Oslo." Alles habe einen normalen Eindruck gemacht. "Es wird ein Boot gerufen und das bringt ihn hinüber nach Utøya. Wenige Minuten vergehen, dann hörten wir die Schüsse."

"Ich konnte ihn atmen hören"

Der Mann in Polizeiuniform und schusssicherer Weste ruft die Jugendlichen zusammen, um sie über die Bombenexplosion in Oslo zu informieren, berichten Überlebende später. Dann schießt er in die Menge. Die 15-jährige Elise erzählt, sie habe Schüsse gehört und im ersten Moment gedacht, sie sei sicher - schließlich steht da ein Mann in Polizeiuniform. Das Mädchen versteckt sich hinter dem Felsen, auf dem der Täter steht. "Ich konnte ihn atmen hören", sagt Elise. Mit ihrem Handy ruft sie ihre Eltern an und flüstert ihnen zu, was sie sieht. Die Eltern reden ihr gut zu, sagen, sie soll nicht in Panik geraten und schnell ihre helle Jacke ausziehen, alles wird gut werden.

Einige der Opfer versuchen, sich tot zu stellen, doch der Täter schießt viele nach einem ersten Schuss zusätzlich noch einmal in den Kopf, erinnert sich der 21-jährige Dana B. Der Attentäter ist mit einer Pistole und einem Gewehr bewaffnet. "Die Schüsse kamen mit etwa zehn Sekunden Zwischenraum", berichtet eine Überlebende, die sich mit Freunden hinter einem Felsen am Wasser versteckt hatte. "Ich hab ihn nicht gesehen, aber gehört. Er schrie und jubelte und gab mehrere Siegesrufe von sich." Adrian P. erinnert sich, dass der Täter mehrfach schrie: "Ich bringe euch alle um. Alle müssen sterben."

Die von Kiefern bewachsene Insel Utøya ist gerade einmal 500 Meter lang. Den Teenagern bleiben nicht viele Möglichkeiten zur Flucht. Viele von ihnen stürzen sich in den See und versuchen, so dem Angriff zu entkommen. "Ich sah, wie sie ins Wasser sprangen, rund 50 Leute schwammen in Richtung Land", sagt die 42-jährige Anita L., die wenige hundert Meter entfernt wohnt. "Die Leute weinten, zitterten, waren völlig verängstigt. Und sie waren so jung, zwischen 14 und 19 Jahre alt."

Der Täter schießt auch auf die Menschen im Wasser. Lisa Irene J. erzählt später im norwegischen Fernsehen, wie sie sich schwimmend in Sicherheit gebracht hat. "Ich habe überlebt, weil Menschen kamen und mich in ihr Boot gezogen haben." Ihre Mutter hält sie während des TV-Auftritts fest im Arm. Torill H., die mit ihrem Motorboot Jugendliche aus dem Wasser holte, schildert, was für sie das Schlimmste war: "Als ich zehn aufgenommen hatte, war das Boot voll. Es war so schrecklich, als ich den elften und zwölften abweisen musste."

Mehr als 80 Jugendliche schaffen es nicht zu entkommen, sie fallen den Schüssen zum Opfer. Etwa 50 Minuten, nachdem Urlauber die ersten Schüsse hörten, sei eine Spezialeinheit der Polizei in Oslo in Bewegung gesetzt worden, sagt Polizeichef Sveinung Sponheim. Die Beamten hätten sich in Autos auf dem Weg gemacht, da der Hubschrauber nicht sofort einsatzbereit gewesen wäre. Die Fahrt habe etwa 20 Minuten gedauert. Weitere 20 Minuten seien vergangen, bis die Beamten ein Boot aufgetrieben habe. "Es gab Probleme mit dem Transport nach Utoya", sagt Sponheim. "Es war schwierig, an ein Boot heranzukommen."

Die Bluttat habe etwa anderthalb Stunden gedauert. Der Mann habe sich bei seiner Festnahme nicht widersetzt: "Es musste kein Schuss abgegeben werden". Anders Behring Breivik ist ein 32-jähriger Norweger, der im Internet mit rechtsextremen Parolen aufgefallen ist, der Polizei aber bisher nicht bekannt war. Wenig später finden die Sicherheitskräfte nicht detonierten Sprengstoff auf der Insel. Bis tief in die Nacht sucht die Polizei von Booten und Hubschraubern aus, mit Scheinwerfern, Insel und See ab.

Die Zahl der bestätigten Todesopfer steigt immer weiter an. Angehörige treffen bei einem nahegelegenen Hotel ein, um die Überlebenden abzuholen. Als klar wird, dass Ministerpräsident Jens Stoltenberg bei dem Sommerlager der sozialdemokratischen Regierungspartei am Samstag eine Rede halten sollte, stellt die Polizei einen Zusammenhang zu dem Anschlag in Oslo her. Die New York Times berichtet unter Berufung auf den Terrorexperten Will McCant, eine Gruppe namens Ansar al-Jihad al-Alami, ("Helfer des globalen Dschihad") habe sich zu den Anschlägen bekannt.

Die norwegischen Ermittler bezweifeln jedoch von Beginn an, dass der internationale Terrorismus etwas mit den Attentaten zu tun hat. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Anschlag gegen das derzeitige politische System wendet, heißt es. Die Polizei durchsucht die Wohnung des Terrorverdächtigen, den sie für beide Taten verantwortlich macht. Sie schätzt ihn als christlichen Fundamentalisten mit rechten politischen Überzeugungen ein.

"Die Antwort auf Gewalt ist mehr Demokratie, mehr Menschlichkeit, aber nicht mehr Naivität", sagt Ministerpräsident Jens Stoltenberg auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Justizminister Knut Storberget. Norwegen sei eine kleine, aber stolze Nation. "Niemand wird uns mit Bomben zum Schweigen bringen. Niemand wird uns mit Kugeln zum Schweigen bringen." Noch in der Nacht besucht Stoltenberg, der als Jugendlicher selbst oft auf Utøya war, Verletzte beider Anschläge im Krankenhaus.

---

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Artikel war von 93 Toten die Rede. Am Montag hat jedoch die norwegische Polizei ihre früheren Angaben korrigiert: Demnach wurden auf der Insel Utøya 68 Menschen getötet, bislang war von 86 Toten die Rede gewesen. Dagegen stieg die Zahl der Toten bei dem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel von sieben auf acht.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: