AfD-Erfolg in Ostdeutschland:"Wir haben Menschen vergessen"

Wahlkampf CDU mit Kanzlerin Merkel

Schon beim Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in Bitterfeld-Wolfen vor gut drei Wochen machten sich die Gegner der Bundeskanzlerin bemerkbar.

(Foto: picture alliance / Hendrik Schmi)

Nach der Wende entstand in Bitterfeld-Wolfen ein kleines Paradies. Heute stimmen dort 22 Prozent für die AfD. Wie passt das zusammen? Ein Besuch am Tag nach der Wahl.

Von Antonie Rietzschel, Bitterfeld-Wolfen

Werner Rienäcker möchte mit etwas Schönem anfangen. Deswegen hat er hierher gebeten. "Wenn man schon mal in Bitterfeld ist, dann muss man das gesehen haben", sagt der 64-Jährige. Der Blick ruht auf einem riesigen See, die Goitzsche, "Gotsche" ausgesprochen. Wo einst ein riesiger Braunkohletagebau die Landschaft verwüstete, befindet sich heute ein Naherholungsgebiet mit kleinem Hafen. Da, dort unten, das sei sein Segelboot. Das mit den blauen Streifen, sagt Rienäcker. Der Ausblick auf diese fantastische Landschaft lässt einen fast den Grund des Besuches vergessen: Das Ergebnis der Bundestagswahl.

Die Alternative für Deutschland ist drittstärkste Kraft geworden. Ihren Erfolg hat sie vor allem den Wählern in Ostdeutschland zu verdanken. Hier, im Wahlkreis Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt, hat fast jeder Vierte die Partei gewählt, 22 Prozent.

"Schmutziger Hinterhof"

Viele AfD-Wähler haben am Wahlabend angegeben, ihr Kreuz aus reiner Enttäuschung gemacht zu haben. Für Rienäcker nur schwer nachzuvollziehen. Natürlich mache er sich so seine Gedanken, über die Flüchtlinge oder die bisherige Regierung. Doch der großen Masse gehe es doch gut, auch in Bitterfeld-Wolfen. Tatsächlich hat die Stadt eine gewaltige Entwicklung durchgemacht. Wegen des großen Braunkohlereviers zu DDR-Zeiten galt dieses Fleckchen Erde lange als "schmutziger Hinterhof Berlins". Wenn der Westwind den Kohlestaub der Goitzsche und den Ascheregen einer nahen Brikettfabrik heranwehte, wurde es in manchen umliegenden Ortschaften so dunkel, dass die Straßenlaternen angemacht werden mussten.

Rienäcker arbeitete nach der Wende für die Stadtentwicklungsgesellschaft. Er plante den Neubau von Straßen, den Wiederaufbau des völlig verfallenen Marktplatzes. "Doch das Schönste", wie er sagt, das war der Ausbau der Uferpromenaden der Goitzsche. Rienäcker kann sich noch erinnern: Als der Hafen 2007 eingeweiht wurde, da hätten die Leute staunend am Ufer gestanden und gesagt: "Dass ich das als gebürtiger Bitterfelder erleben darf."

"Der Himmel über der Mulde soll wieder blau werden", mit diesem Wahlspruch kandidierte Walter Rauball 1994 für das Bürgermeisteramt in Bitterfeld. 14 Jahre war der frühere Sozialdemokrat im Amt. Die Goitzsche war auch für ihn ein Symbol. Dafür, wie die Stadt neu entstand. Jetzt sitzt er nach der Bundestagswahl mit seiner Frau Gudrun auf der heimischen Couch und sagt: "Diese Schönrednerei war Teil des Problems. Wir haben viele Menschen vergessen."

Die ursprünglich eigenständigen Städte Bitterfeld und Wolfen waren zu DDR-Zeiten ein gigantisches Industriegebiet mit riesigen Chemiefabriken. Nach der Wende verloren Zehntausende Menschen ihren Job, ihr Ansehen, ihren Stolz. 2004 betrug die Arbeitslosigkeit allein im Landkreis Bitterfeld 24 Prozent. "Stellen Sie sich einen 35-Jährigen vor, der noch Bäume herausreißen kann - und dann wird ihm gesagt, er wird nicht mehr gebraucht", sagt Gudrun Rauball. "Diese Brüche in der Biografie, das macht etwas mit den Menschen." Im Osten haben aber besonders viele junge Männer die AfD gewählt, wie passt das zusammen? "Die Eltern geben ihren Frust über Generationen hinweg weiter", sagt Walter Rauball. "Und so viele junge Frauen gibt es hier ja nicht mehr", fügt Gudrun Rauball an. Viele seien nach der Wende gegangen.

Aus Sicht der Rauballs ist die Diskussion über die Flüchtlinge lediglich eine Stellvertreterdebatte über die Ungerechtigkeit, die den Menschen im Osten widerfahren ist. Beispiele dafür finden sich in der mittlerweile fusionierten Stadt Bitterfeld-Wolfen ausreichend. Da wäre zum Beispiel die Geschichte um Bayer. Altkanzler Helmut Kohl sorgte nach der Wende persönlich dafür, dass sich der Pharmakonzern im Chemiepark in Wolfen ansiedelte. Damit wurden zwar Arbeitsplätze geschaffen, doch die Gewerbesteuer fließt seither nicht etwa an die Region, sondern zurück nach Leverkusen, wo sich der Hauptsitz des Konzerns befindet.

So verhält es sich auch mit anderen Firmen aus dem Westen, die hier Niederlassungen eröffnen. Zwar wurden Jobs geschaffen, die Arbeitslosenquote sank auf sieben Prozent. Doch es fehlt Geld für Investitionen. Erleichterung brachte mehrere Jahre die Firma Q-Cells, die in der Nähe von Bitterfeld Solarzellen bauen ließ. Doch das Unternehmen meldete Insolvenz an. Q-Cells wurde von einem koreanischen Konzern übernommen, die Produktion ins Ausland verlegt. Der Region fehlten nun mehrere Millionen Euro Gewerbesteuern pro Jahr. Heute, so rechnet Rauball vor, hat die Stadt gerade mal 1,5 Millionen Euro übrig für Investitionen, das reicht für zwei Feuerwehrautos.

Es fehlt Geld für soziale Projekte

Dabei gäbe es so viel zu tun. Tausende Menschen pendeln von Halle oder Leipzig nach Bitterfeld-Wolfen, um hier zu arbeiten. Um sie dauerhaft zu halten, fehlt es an attraktivem Wohnraum. Platz wäre zum Beispiel in Wolfen, wo alte Plattenbauten vor sich hin rotten, sich ein Schlagloch an das nächste reiht. Hier ist die Wut auf die etablierten Parteien besonders stark zu spüren. "Merkel muss weg", steht an einem Supermarkt. Das Plakat von Martin Schulz wurde mit der Aufschrift "Volksverräter" beschmiert. "Islam" und "Pädophile" steht auf einem Plakat der Grünen. Die Wohnsiedlung Wolfen Nord ist mittlerweile bundesweit bekannt, dank der RTL-II-Sendung "Hartz und herzlich". "Die Stadt hat kein Geld für soziale Projekte", sagt Rauball. Man warte jetzt auf finanzielle Hilfe vom Land Sachsen-Anhalt.

Doch Uwe Rienäcker kann nicht glauben, dass allein die Hartz-IV-Empfänger und Langzeitarbeitslosen für den Erfolg der AfD verantwortlich sein sollen. Statistisch gesehen wäre das auch gar nicht möglich. In seinem Umkreis kennt er genügend Bekannte, die sich kritisch und auch rassistisch über Flüchtlinge äußern. Nach dem Motto: Die werden uns alle überrollen. Oder: Bald haben wir gar nichts mehr zu sagen. Es sind Mittelständler, Chefs von großen Firmen. "Die fürchten sich davor, Privilegien abgeben zu müssen", sagt Rienäcker.

Die AfD hat es in Bitterfeld-Wolfen geschafft, all die Sorgen zu kanalisieren. Jan-Uwe Ziegler, AfD-Direktkandidat, mit 22 Prozent auf Platz zwei im Wahlkreis, wirkt wie einer, der sich kümmert. Er arbeitet im Einzelhandel, besitzt mehrere Läden in der Stadt und ist Vorsitzender des Fördervereins Innenstadt, der sich für die Stärkung des Einzelhandels einsetzt. Ziegler thematisierte immer wieder die Probleme mit der Gewerbesteuer. Ein Lieblingsthema war auch die Goitzsche. Allerdings erzählten Ziegler und seine Unterstützer eine andere Geschichte als Rienäcker. Sie machten die Goitzsche zum Symbol für den Kampf zwischen Volk und Kapital.

200 Millionen Euro kostete die Renaturierung des Braunkohletagebaus und damit auch Steuergeld. Die Böschungen wurden bepflanzt, Gehwege angelegt, die Krater nach und nach geflutet. 2013 verkaufte die Stadt einen großen Teil des Sees an einen privaten Investor, für gerade mal 2,9 Millionen Euro. Bei dem Käufer handelt es sich um die Firma Blausee, die wiederum den Erben des Pharma-Unternehmers Adolf Merckle gehört. Nun ist die Uferpromenade nicht mehr uneingeschränkt zugänglich. Und der Investor hat im Stadthafen weitere Anlegestellen für Boote bauen lassen, die jedoch vor sich hin rotten. "Hol dir dein Land zurück", stand auf den AfD-Plakaten, die auch in Bitterfeld-Wolfen hingen. Hier könnte man es auch so übersetzen: Hol dir die Goitzsche zurück.

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