Süddeutsche Zeitung

1982, 1998:Kohl und Schröder

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Helmut Kohl stürzte 1982 Helmut Schmidt per Misstrauensvotum und strebte sofort Neuwahlen an. In diesem Zeichen stand auch seine erste Regierungserklärung. 16 Jahre später wurde er von Gerhard Schröder abgelöst, der sich jederzeit an der Zahl der Arbeitslosen messen lassen wollte.

Sven Böll

Helmut Kohls Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982

Der zeitgeschichtliche Kontext "Ein bisschen Frieden" - das wünschte sich 1982 nicht nur die Schlagersängerin Nicole. Sie traf den Nerv der Zeit, denn nach der Entspannungsphase der siebziger Jahre war die Temperatur im Kalten Krieg wieder deutlich gefallen: Die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein, und mit Ronald Reagan kam in Washington ein Präsident an die Macht, der das kommunistische "Reich des Bösen" mit einem Wettrüsten in den Ruin treiben wollte.

Die international angespannte Lage war auch das dominierende innenpolitische Thema: Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte alle Mühe, die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen (Nato-Doppelbeschluss) in der SPD durchzusetzen. Große Teile der Bevölkerung lehnten die Nachrüstung ab. Im Bonner Hofgarten demonstrierten 1981 rund 350.000 Menschen - die bis dahin größte Demonstration in der Bundesrepublik. Einige pazifistische Aufrüstungsgegner fanden zusammen mit Umweltaktivisten in den als "Anti-Parteien-Partei" angetretenen Grünen eine neue politische Heimat.

Die Botschaft Die erste Regierungserklärung von Helmut Kohl stand ganz im Zeichen des politischen Erdbebens, das sich knapp zwei Wochen zuvor ereignet hatte. Erstmals war ein konstruktives Misstrauensvotum erfolgreich gewesen.

Gegen den Vorwurf der SPD, nicht von der Bevölkerung legitimiert zu sein, ging Kohl in die Offensive und schlug Neuwahlen für März 1983 vor. Den nahenden Urnengang bereits im Blick, hielt Kohl im Bundestag mehr eine Wahlkampfrede denn eine klassische Regierungserklärung. Im Ton vermied er es, scharf mit der alten Regierung abzurechnen - wohl aus Rücksicht auf seinen neuen Koalitionspartner. In der Sache versprach Kohl schwarz-gelbes Licht am Ende des ökonomischen Tunnels: "Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen." Kohls Maxime lautete: "Weniger Staat, mehr Eigenverantwortung".

Der neue Kanzler schlug ein Dringlichkeitsprogramm vor: Öffentliche und private Investitionen sollten massiv gefördert, die Unternehmensteuern gesenkt und Sozialleistungen gekürzt werden. Kohl streute den Bürgern keinen Sand in die Augen, sondern verkaufte durchaus unpopuläre Maßnahmen.

Obwohl er mit seiner innenpolitischen Schwerpunktsetzung der Erkenntnis folgte, dass Wahlen nicht mit der Außenpolitik gewonnen werden, waren seine Bemerkungen gerade zur Deutschlandpolitik in ihrer Deutlichkeit überraschend: Kohl bekannte sich zu den guten Beziehungen zur DDR und kündigte an, auf die Tugenden Brandt'scher Entspannungspolitik zurückzugreifen: "Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl sind und können nicht das letzte Wort zwischen Ost und West sein." Seinem späteren Lieblingsthema, der europäischen Einigung, widmete er jedoch nur zwei eher allgemein gehaltene Absätze.

Die Bilanz Die Außenpolitik - in der Regierungserklärung 1982 nur ein Thema unter vielen -, wurde im Laufe seiner 16-jährigen Amtszeit Kohls Steckenpferd. Sein Beitrag zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Vollendung der Euopäischen Union sind unbestritten. Weniger rosig fällt das Urteil über Kohls Innenpolitik aus.

Anders als angekündigt hat die schwarz-gelbe Koalition den Sozialstaat etwa durch die Einführung der gesetzlichen Pflegeversicherung weiter ausgebaut und zahlreiche neue Subventionen wie die Eigenheimzulage geschaffen. Der am längsten amtierende Kanzler der Bundesrepublik hat bis Mitte der neunziger Jahre die wirtschaftlichen Probleme ausgesessen. Entsprechend war "Reformstau" das Wort des Jahres 1997.

Gerhard Schröders Regierungserklärung vom 10. November 1998

Der zeitgeschichtliche Kontext Die innenpolitischen Fronten waren Ende der neunziger Jahre festgefahren wie seit den Siebzigern nicht mehr: Die SPD blockierte die zagen Reformversuche der schwarz-gelben Koaltion mit ihrer Bundesratsmehrheit, denn sie wollte um jeden Preis an die Macht.

Dem unverbrauchten telegenen Spitzenkandidaten Gerhard Schröder gelang es, die Ära Kohl nach 16 Jahren zu beenden. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gab es einen kompletten Machtwechsel: Nicht nur eine Regierungspartei wurde ausgewechselt, sondern beide. SPD und Grüne übernahmen die Regierungsverantwortung.

Die Arbeitslosigkeit blieb das wichtigste politische Thema. Insbesondere große Teile Ostdeutschlands waren von "blühenden Landschaften" weit entfernt, und immer mehr Firmen konnten dem internationalen Wettbewerbsdruck nicht mehr standhalten. Die Belastung des Faktors Arbeit hatte Rekordniveau erreicht.

Mit der Wiedervereingung waren auch die außenpolitischen Ansprüche an die Bundesrepublik gestiegen: Die internationale Gemeinschaft forderte von der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt nicht länger Scheckbuch-Diplomatie, sondern rief Deutschland dazu auf, mehr Verantwortung zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern war die Regierung Kohl diesem Ansinnen nachgekommen. Als Kohl die Macht an Schröder übergab, stand der Bundeswehr-Einsatz im Kosovo an.

Auf europäischer Ebene hatte die EU in der Zwischenzeit enorm an Einfluss gewonnen. Die Nationalstaaten übertrugen ihr zunehmend Kompetenzen, vor allem in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Am 1. Januar 1999 führten zwölf Staaten die gemeinsame Währung Euro ein.

Die Botschaft Gerhard Schröder wollte mit seiner ersten Regierungserklärung aus der Wechselstimmung des Wahlkampfes eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufbruchstimmung für die beginnende "Berliner Republik" erzeugen. Entsprechend konzentrierte er sich auf die Innenpolitik und streifte die Außenpolitik eher pflichtgemäß.

Dass der erste Kanzler, der den Krieg nicht erlebt hatte, bereit war, Tabus der Bonner Republik zu brechen, hatte er bereits bei seiner Vereidigung gezeigt. Als bisher einziger Kanzler verzichtete er bei seinem Amtseid auf die Formel "So wahr mir Gott helfe".

Einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik ist auch, wie präzise und eindimensional Schröder das Kriterium für die Beurteilung seiner Arbeit festgelegte: "Wir wollen uns jederzeit, nicht erst in vier Jahren, daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen." Diesem wirtschaftlichen Ziel sollten alle anderen untergeordnet werden.

Union und FDP, die vor einer "anderen Republik" unter Rot-Grün gewarnt hatten, gab er mit auf den Weg in die Opposition: "Die alte Bundesregierung hat uns keineswegs ein 'bestelltes Haus' hinterlassen". Um das Haus Deutschland zu bestellen, wollte Schröder nicht alles anders, aber vieles besser machen: den Haushalt konsolidieren, die Rentenversicherung reformieren, mit einer ökologischen Steuerreform die Lohnnebenkosten senken. Doch zunächst kündigte er eine Rolle rückwärts an: die Rücknahme der zaghaften Sozialreformen unter Kohl.

Einen großen Schritt vorwärts machte Schröder jedoch in der Gesellschaftspolitik, wo er die mutigsten Reformschritte ankündigte. Dies wurde beim Thema Zuwanderung am deutlichsten. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht erkannte die Regierung offiziell an, was alle vor ihr geleugnet hatten: Deutschland ist ein Einwanderungsland.

Die Bilanz Wie bei Kohl wurde die Außenpolitik in den vergangenen Jahren zusehends Schröders Lieblingsdomäne. Das lag vor allem daran, dass es für einen Regierungschef angenehmer ist, weit weg von den Problemen zu Hause zu sein. Dabei hat Schröder hier einige Hausaufgaben erledigt, insbesondere in der Gesellschaftspolitik.

Gemessen an seinem eigenen Maßstab - der signifikanten Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen - ist er aber gescheitert. Erst nach dem überraschenden Wahlsieg 2002 haben SPD und Grüne ernsthaft begonnen, die wirtschaftliche Verkrustung aufzubrechen. Somit hielt Gerhard Schröder seine wohl wichtigste Regierungserklärung nicht 1998, sondern am 14. März 2003, als er die Agenda 2010 vorstellte.

Er kündigte die härtesten sozialen Einschnitte in der Geschichte der Bundesrepublik an: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern." Trotz dieser politischen Kehrtwende sah das Jahr 2005 mehr als fünf Millionen Arbeitslose und eine Bundesschuld von fast 900 Milliarden Euro.

Ausblick Angela Merkel könnte somit zur Beschreibung der Ausgangslage anno 2005 wörtlich auf die erste Regierungserklärung ihres Förderers Helmut Kohl vor 23 Jahren zurückgreifen: "Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen."

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