Süddeutsche Zeitung

15. Jahrestag des Massakers von Sivas:Eingebrannt in die Erinnerung

Ein wütender Mob, ein Feuer und 37 Tote - der Anschlag im türkischen Sivas von 1993 richtete sich gegen die Aleviten. Eine offizielle Aufarbeitung des Verbrechens lässt bis heute auf sich warten.

Kai Strittmatter

Pir Sultan Abdal war aus der Stadt Sivas. Ein Rebell war er und ein Dichter dazu. Ein Held seiner Religionsgemeinschaft, der Aleviten. "An welche Orte soll ich denn ziehen", schrieb er einmal: "Dort, wo ich war, das Leid fand mich." Tatsächlich spürten die Henker des Sultans ihn auf und hängten ihn, wahrscheinlich im Jahr 1550.

Es gibt ungesühnte Verbrechen. Und es gibt ungesühnte Verbrechen mit Tausenden Tätern, die vor den Augen einer ganzen Nation begangen wurden. Da hallen die Schreie auch Jahre später noch nach und finden ein Echo in frischem Schmerz und Zorn.

Sivas, am 2. Juli 1993. Das berühmteste Foto jenes Tages zeigt im fast schwarzen Hintergrund einen kleinen Mann, der eine Feuerleiter hinabsteigt. Im Vordergrund, das Gesicht hell ausgeleuchtet, steht ein Mann mit Bart und Brille, der mit erhobenen Händen der Menge etwas zuruft. Der im Hintergrund ist Aziz Nesin, einer der bekanntesten Schriftsteller der Türkei. Er ist in dieser Sekunde dem Tod entronnen. Der Mann vorne ist Cafer Ercakmak, zu jener Zeit Stadtrat für die islamistische Refah-Partei. Er möchte Aziz Nesin die Leiter hoch zurücktreiben und ruft der Menge zu: "Sie sollen alle verbrennen, die Ungläubigen." Das helle Licht, das seine Gesichtszüge ausleuchtet, ist der Widerschein des Feuers, das in diesem Moment das Madimak-Hotel verschlingt.

37 Menschen sterben in Sivas. Verbrennen bei lebendigem Leibe. Weil der Mob das Hotel angesteckt hat. Angefeuert von Anführern wie jenem Stadtrat Ercakmak. Das Verbrechen der Opfer: Sie waren Linke, Aleviten die meisten. Aziz Nesin war bekennender Atheist und Sozialist. Er hatte soeben Salman Rushdies "Satanische Verse" in der Türkei herausgebracht und damit den Zorn frommer Muslime auf sich gezogen. Schriftsteller, Sänger, Künstler waren zusammengekommen, um den alevitischen Dichter Pir Sultan Abdal zu ehren. "Wie ein Vogel in den Pranken des Falken / Wie ein Albtraum in der Morgendämmerung / Schreiend nahm mich das Leid ein."

Weder Reue noch Erbarmen

Das Massaker von Sivas. Es gibt ein Video davon. Gedreht von der Polizei, die nur dabeisteht und den Mob gewähren lässt. Stunden über Stunden. Sie greift nicht ein, gibt nicht mal Warnschüsse ab. "Der Staat", sagt Ali Ertan Toprak, "hat sich zum Komplizen gemacht." Ein Eindruck, den die Monate nach dem Massaker verstärkten. Von den Anführern wurde kaum einer gefasst. Die Islamisten, denen man den Prozess machte, zeigten weder Reue noch Erbarmen mit den Familien der Opfer. Sie grinsten in die Kameras und machten die Verhandlungen zu Demonstrationen ihrer Sache - nur drei Jahre später wurde die Refah-Partei, der viele von ihnen angehörten, zur Regierungspartei. Von Stadtrat Ercakmak fehlt bis heute jede Spur. "Die Justiz", schreibt die Zeitung Milliyet, "hat sich nie bemüht."

Für die Aleviten, nicht nur in der Türkei, war Sivas ein Wendepunkt. Ali Ertan Toprak ist Alevit. Er wurde in Ankara geboren, wuchs aber in Deutschland auf, einem Land, in dem er sich eigentlich immer wohlfühlte. Bis 1993. Dann kam der Anschlag von Solingen. "Zum ersten Mal fühlte ich mich ungewollt." Toprak hat bis heute beide Staatsbürgerschaften, die deutsche und die türkische. Er beschloss, für längere Zeit in die Türkei zu gehen. "Ich suchte Wärme, Freunde, Verwandte." Er stieg in ein Flugzeug.

Es war, ausgerechnet, der 2. Juli 1993. Als Toprak in Izmir landete, brannte das Madimak-Hotel in Sivas schon. In ihrer Hilflosigkeit und ihrem Schock sammelten sich Toprak und etwa 1000 Gleichgesinnte zu einem Trauermarsch durch Izmir. Diesmal handelte die Polizei: Innerhalb von nur fünf Minuten trieb sie die Trauernden auseinander. "Der türkische Staat trennt sehr wohl zwischen seinen Bürgern", sagt Toprak: "Geduldet bist du hier nur, wenn du Türke und gleichzeitig sunnitischer Muslim bist." Toprak ging damals zurück nach Deutschland und in die Politik: Heute ist er der Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde Deutschlands.

Aleviten waren immer verdächtig. Außenseiter. Vogelfrei. Viele Aleviten sind Kurden. Ihr Glaube ist ein Gemisch aus vorislamischen Traditionen, Sufi-Mystik und ein wenig Schiitentum. Häretiker in den Augen orthodoxer Muslime: Nehmen den Koran nicht wörtlich, gehen nicht in die Moschee, glauben nicht an die fünf Säulen des Islam, beten, wann und wo sie wollen. Die Frauen tragen kein Kopftuch. Musik und Tanz spielen eine zentrale Rolle bei ihren Zeremonien - und die Tatsache, dass Männer und Frauen gleichberechtigt miteinander an den Tänzen teilnehmen, hat zu jenen hetzerischen Legenden unter den sunnitischen Muslimen geführt, wonach Aleviten beim "Erlöschen der Kerze" in wilden Orgien übereinander herfallen.

Sultan Selim I. (1514-1520) war der Erste, der die anatolischen Aleviten im großen Stil abschlachten ließ. Nach Gründung der Republik 1923 waren die Aleviten die treuesten Republikaner - das säkulare System schien ihnen der beste Schutz vor der Scharia zu sein. Eine Garantie gegen Massaker war es nicht. Vor Sivas hatte 1978 schon ein Mob in der Stadt Maras Aleviten getötet.

Heute, am 15. Jahrestag, werden die Aleviten in Sivas demonstrieren. "Die Türkei hat sich bis heute nicht entschuldigt. Dieses Land hat noch kein einziges Massaker in seiner Geschichte aufgearbeitet", sagt Toprak. "Deshalb können solche Dinge jederzeit wieder geschehen." Seit vielen Jahren bitten die Aleviten darum, das Madimak-Hotel in ein Museum zu verwandeln. Bis heute ist nichts geschehen. "Ein Museum könnte die Einheit der Türkei stören", sagte der Gouverneur von Sivas im letzten Jahr. Besonders empört die Aleviten, dass vor ein paar Jahren ein Kebap-Restaurant im Hotel aufmachte. "Man kann doch nicht so tun, als sei das ein normaler Ort", sagt Toprak.

Immerhin: Es ist einiges geschehen in der alevitischen Gemeinde seit 1993. Man organisiert sich. Seit zwei Jahren gibt es einen Fernsehsender: Yol-TV. "Noch unsere Eltern waren eingeschüchtert", sagt Toprak. "Aber wir ducken uns nicht mehr." Noch ist Sivas ungesühnt. Einige der Anstifter sind nach Deutschland geflohen. Toprak sagt, diese Leute müssten endlich vor Gericht. "Es kann nicht sein, dass Mörder in Deutschland frei herumlaufen."

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SZ vom 2.7.2008/dgr
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