15 Jahre nach dem Anschlag von Solingen:Das Brandmal bleibt

Auch 15 Jahre nach dem Anschlag, bei dem fünf Türkinnen starben, muss Solingen mit diesem Trauma fertigwerden. Mevlüde Genc, Mutter zweier Opfer, schafft es, dabei zu helfen.

Dirk Graalmann

Die drei Schülerinnen hocken gelangweilt vor dem Parkplatz des Solinger Mildred-Scheel-Kollegs und stecken sich eine Zigarette an. Sie rauchen, reden kaum, nur ab und an weht ein Lachen herüber. Zehn Meter weiter steht die Skulptur mit den beiden Figuren, die ein verrostetes Hakenkreuz zerreißen, umfasst von einem Geflecht aus metallenen Ringen, das immer höher wächst, weil als Zeichen der Solidarität weitere Ringe dazukommen. Die Schüler gehen jeden Tag an diesem Mahnmal vorbei, es gehört zu ihrem Alltag wie die Zigarette. Auf der Bronzetafel steht: "Wir wollen nicht vergessen. Wir wollen nicht wegsehen. Wir wollen nicht schweigen."

15 Jahre nach dem Anschlag von Solingen: 29. Mai 1993: In diesem Fachwerkhaus in Solingens Unterer Wernerstraße haben bei einem ausländerfeindlichen Brandanschlag fünf Menschen ihr Leben verloren.

29. Mai 1993: In diesem Fachwerkhaus in Solingens Unterer Wernerstraße haben bei einem ausländerfeindlichen Brandanschlag fünf Menschen ihr Leben verloren.

(Foto: Foto: AP)

Knapp 5000 silberfarbene Ringe hüllen die Figuren inzwischen halbhoch ein, verschweißt als Zeichen der Verbundenheit, graviert mit den Namen der Paten, die sie gestiftet haben. Im Zentrum glänzen fünf bronzefarbene Ringe, auf jedem ein Name: Hatice Genc, Hülya Genc, Saime Genc, Gülüstan Öztürk, Gürsün Ince. Fünf Namen, fünf Menschenleben. Sie endeten am 29. Mai 1993 auf grausamste Weise. Zwischen 4 und 27 Jahre alt waren sie, die in jener Nacht in den Flammen ihres Hauses in Solingen starben, das vier deutsche Jugendliche angezündet hatten. Die Täter, damals zwischen 16 und 24 Jahre alt, wurden in einem quälenden Indizienprozess mit widerrufenen Geständnissen zu langen Haftstrafen verurteilt.

Inzwischen sind sie entlassen, ihr Leben geht weiter, auch hier in Solingen, dieser Stadt mit rund 160000 Einwohnern, deren Namen Synonym für die ausländerfeindliche Stimmung in Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre geworden ist. Es gab Hoyerswerda und Rostock, Hünxe und Mölln, doch Solingen haftet besonders im Gedächtnis. "Das tut weh, jedes Mal wieder", sagt Franz Haug. Seit neun Jahren ist der 66-jährige CDU-Politiker Oberbürgermeister jener Stadt, die bekannt wurde durch Messer und Klingen.

"Made in Solingen", hieß der Spruch der Werbetexter. "Made in Solingen" hat seit 15 Jahren aber auch eine grausame Bedeutung. Dabei, sagt Haug, hätte es "genauso in Wuppertal oder Remscheid passieren können". Es soll keine Entschuldigung sein, erst recht keine Distanzierung, aber Solingen "war ein Menetekel für ganz Deutschland". Vielleicht geht es genau darum. "Solingen ist überall", lautete die Überschrift einer Resolution, die der Stadtrat wenig später fasste.

In der Stadt im Bergischen Land gab es damals eine kleine, militante rechte Szene. In einer Talsenke, dem "Bärenloch", traf sich der Mob, der sich als "Bergische Front" organisiert hatte. Man trank, schimpfte über Ausländer und gröhlte Lieder der "Böhsen Onkelz".

Steine und Kastanien

"Es gab so ein braunes Rauschen", sagt Heinz Siering, Leiter der Solinger Jugendhilfe-Werkstatt. Der 58-Jährige hat das Mahnmal an der früheren Schule von Hatice Genc geschaffen, als die Politik noch stritt, wo und wie der Opfer gedacht werden könne. Seither kümmert er sich darum, räumt mit Jugendlichen auf, wenn Vandalen es beschmutzt oder wieder die Blumen rausgerissen haben. Siering kümmert sich um Wunden der Stadt. Er erinnert sich, wie er in der Zeit, ehe der Anschlag geschah, abends mit dem Farbeimer durch die Straßen zog, um Hakenkreuze an Hauswänden zu überpinseln. "Am Horizont konnte man erkennen, dass sich da etwas zusammenbraut."

Seit dem schlimmsten rechtsextremen Anschlag der deutschen Nachkriegsgeschichte ist viel passiert, für Oberbürgermeister Haug "liegen Welten zwischen damals und heute". Er spricht vom Jugendstadtrat, von Kulturfesten, der wertvollen Arbeit von Ausländerbeirat und Integrationsbeauftragten. "Es ist in der Stadt viel getan worden", sagt auch Walter Beu vom Bündnis für Toleranz und Zivilcourage, das die Gedenkveranstaltungen zum 29. Mai organisiert. In den letzten Jahren kamen jeweils etwa 300 Menschen. "Das ist doch nach 15 Jahren nicht schlecht?", sagt Beu.

Das Brandmal bleibt

Heute spazieren junge Mütter mit Kinderwägen durch das Bärenloch, das Treffpunkt der Rechten war. Man kann das gut sehen, von oben, von jener Stelle an der Unteren Wernerstraße 81, wo bis zum 29. Mai 1993 das Fachwerkhaus der Familie Genc stand. Jetzt wachsen auf dem Areal fünf Kastanien, für jedes Opfer eine. Reste der Grundmauern sind zu sehen, einige Steine sind den Hang heruntergepurzelt, davor steht ein einfacher Zaun, an der Seite ist ein kleiner Gedenkstein. Von weitem kann man ihn nicht erkennen, ein Laternenmast verdeckt die Sicht. Die Nachbarn haben ihre Abfalltonnen an die Seiten des Zaunes gestellt, regelmäßig kommt die Müllabfuhr. Den Schrecken kann niemand entsorgen.

Mevlüde Genc geht immer wieder zu diesem Ort, an dem ihr erstes Leben endete. Wo sie zwei Töchter, zwei Enkel und eine Nichte verlor. Die kleine Frau mit den kräftigen Händen und dem weichen Händedruck ist jetzt 65. "Mein Herz aber ist 90. Ich bin eine lebende Leiche", sagte sie während des Prozesses.

Am Montag ist sie mit ihrem Mann Durmus in der ersten Reihe des Solinger Konzerthauses gesessen, neben ihr Innenminister Wolfgang Schäuble. Auf der Bühne wurde zum ersten Mal der Genc-Preis verliehen, eine Auszeichnung für "Respektvolles Miteinander". Er ist nach Mevlüde Genc benannt, die selbst im größten Schmerz für ein friedliches Zusammenleben warb. Die Frau, die seit 1973 in Deutschland wohnt und der deutsche Jugendliche alles genommen hatten, bat schon wenige Tage nach der Tat: "Der Tod meiner Angehörigen soll uns öffnen, Freunde zu sein. Lasst uns Hand in Hand miteinander leben."

Die Ehrengäste haben ihre Hände im Schoß gefaltet. Wolfgang Schäuble spricht von einer "Zäsur", die Solingen im Umgang mit Zugewanderten bedeutet habe. Mevlüde Genc in der ersten Reihe hört regungslos zu. Einmal wischt sie sich eine Träne aus dem Gesicht. "Es wird keinen Tag geben, an dem ich den Schmerz nicht spüre", sagt sie. Ab und an fasst sie sich ans Herz, als wolle sie die Worte direkt dort herausreißen. Sie redet schnell, gehetzt, ohne Luft zu holen. Wenn der Dolmetscher übersetzt, redet Mevlüde Genc weiter. Sie kann darüber sprechen, doch in Worte fassen lässt sich das Grauen nicht.

"Solingen ist meine Heimat", sagt sie. "Ich hab fast mein ganzes Leben hier verbracht, warum sollte ich gehen?" Nun wohnt sie an einer Hauptstraße, nebenan ist die Löschgruppe3 der Feuerwache stationiert, ihr Haus ist mit Fenstern versehen, die sich bei einem Brand automatisch öffnen, und mit einem schweren Rolltor gesichert. Sie lebt, eingeschlossen in ihrer Welt, weiter. In der Stadt tuschelten manche über einen Swimmingpool, den die Familie habe, und dass Frau Genc beim Einkaufen nicht zahlen müsse. "Diesen Schwachsinn kriegt man nicht aus den Köpfen", sagt der Oberbürgermeister. Da hilft auch nicht das interkulturelle Gesamtkonzept, für das die Stadt von der Bundesregierung ausgezeichnet wurde.

Solingen muss mit dieser Geschichte leben. Irgendwie. So wie Mevlüde Genc. Sie tut es auf ihre Weise: "Ich liebe alle Menschen hier. Bis auf die vier", sagt sie. Zwei von ihnen, Felix K. und Christian B. - die bis heute eine Tatbeteiligung bestreiten - sind ab und an in Solingen. Der Vater von Felix K., ein Arzt, der sich früher gegen den Atomkrieg und bei den Grünen engagierte, praktiziert noch immer hier. "Ich bete zu Allah, dass ich ihnen nie begegne", sagt Mevlüde Genc. Sie würde sie erkennen, ganz bestimmt, selbst wenn sie nun Anfang 30 sind.

15 Jahre sind eine lange Zeit. Er spüre eine "gewisse Lethargie in der Stadt", sagt Heinz Siering. "Man hat sich damit arrangiert." Er kämpft dagegen. Am Montag hat er wieder 40 rote Geranien am Mahnmal gepflanzt. Er hofft, dass sie nicht rausgerissen werden. Zur Sicherheit hat er in der Werkstatt noch 40 Pflanzen stehen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: