100 Tage Grün-Rot in Baden-Württemberg:Bloß keine Überheblichkeit!

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"Erste Akzente" statt Eigenlob: Nach gut drei Monaten präsentiert sich Grün-Rot in Baden-Württemberg zurückhaltend - außer beim Streitthema Stuttgart 21. Ministerpräsident Kretschmann verlangt von der Bahn einen Baustopp bis zur Volksabstimmung. Sein Verkehrsminister zweifelt am Zeitplan des Konzerns. Der Tiefbahnhof ist das größte Problem der Koalition, aber bei weitem nicht das einzige. Die Wirtschaft äußert sich deshalb skeptisch, doch der grüne Landesvater sieht es locker.

Michael König

In Baden-Württemberg machen sie jetzt viele Dinge anders. Das gilt auch für die 100-Tage-Bilanz der grün-roten Regierung. Im Garten der Villa Reitzenstein präsentieren Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Finanz- und Wirtschaftsminister Nils Schmid den ersten Ertrag ihrer Amtszeit. Ohne Pomp, an einem kleinen Tisch mit weißer Tischdecke und sommerlichen Blumen. Und zwei Tage zu früh, weil Kretschmann am Freitag, dem eigentlichen Datum, in Berlin gemeinsam mit der dortigen Spitzenkandidatin Renate Künast für die Grünen werben soll.

Nach 98 Tagen grün-roter Regierung in Baden-Württemberg ziehen Finanzminister Nils Schmid (l., SPD) und Ministerpräsident Winfried Kretschmann Bilanz. (Foto: dpa)

Nicht einmal einen Sonnenschirm haben sich Schmid und Kretschmann genehmigt, weshalb sie ihr positives, aber demonstrativ zurückhaltendes Fazit mit verkniffenen Augen in die kleinen Mikrofone sprechen.

"Wir sind gut gestartet", sagt Kretschmann und spricht immer wieder von "ersten Akzenten", die seine Regierung gesetzt habe. Die "Politik des Gehörtwerdens" werde von den Bürgern ernstgenommen. Die Stimmung im Land sei gut: "Die Leute freuen sich, dass endlich mal jemand anders regiert, und nicht nur Schwarze sind, wohin man auch blickt."

Das bleibt mithin der einzige Seitenhieb auf die CDU, die nach 58 Jahren die Macht im Ländle an Grün-Rot hatte abgeben müssen - und den neuen Mann im Amt des Ministerpräsidenten zu bestaunen scheint. "Kult" sei der erste grüne Landesvater der Republik, soll dessen Vorvorgänger, der jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger, gesagt haben.

Der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling schwärmte im Südwestrundfunk, Kretschmann sei ein "Sympathieträger, weil er authentisch und in jeder Beziehung glaubhaft ist". Als früheres Mitglied im Kommunistischen Bund, praktizierender Katholik und aktiver Schützenbruder schlage der Ministerpräsident "Brücken, und danach sehnt sich die Bevölkerung."

Andererseits besteht die Koalition nicht nur aus Kretschmann. Und auch wenn er an der Seite des SPD-Superministers Schmid in der Villa Reitzenstein Einigkeit demonstrierte: das Zusammenspiel zwischen Grün und Rot könnte besser sein. Eine "wachsende Zerstrittenheit" bescheinigte jüngst CDU-Fraktionschef Peter Hauk der Koalition. Der "fliegende Teppich des Ministerpräsidenten" sei bereits nach kurzer Zeit "hart gelandet".

[] Das größte Problem ist und bleibt Stuttgart 21. Kretschmann forderte die Bahn an diesem Mittwoch auf, bis zur Volksabstimmung im Herbst den Südflügel des bestehenden Kopfbahnhofs nicht abzureißen. Alles andere sei "unverantwortlich". Einen solchen Baustopp lehnt der Konzern jedoch strikt ab. Zudem warf der Ministerpräsident der Bahn vor, noch keine seriöse Aufstellung der Kosten für einen Baustopp vorgelegt zu haben. Die bisher genannten Zahlen seien "abenteuerlich".

Verkehrsminister Winfried Hermann überraschte mit der Äußerung, Stuttgart 21 werde erst 2025 fertiggestellt - sechs Jahre später, als von der Bahn geplant. Es gebe Verzögerungen bei mehreren Planfeststellungsverfahren. Bahnsprecher Wolfgang Dietrich widersprach: Man rechne mit 2019, spätestens 2020 sei der Bahnhof fertig.

Ob mit oder ohne Baustopp - die Volksabstimmung im Herbst dürfte für Grüne und SPD eine Zerreißprobe bedeuten. Die Koalitionspartner werden gegeneinander Wahlkampf führen müssen: Die Öko-Partei lehnt das milliardenschwere Bahnhofsprojekt strikt ab, die Spitze der Sozialdemokraten ist dafür. Die Phase der Schlichtung durch Heiner Geißler ist beendet, Schmid hat sie jüngst als teilweise gescheitert bezeichnet. In seiner 100-Tage-Bilanz gab sich der Superminister allerdings diplomatisch: "Unser Erfolgsgeheimnis besteht darin, dass man unterschiedliche Meinungen akzeptiert."

Dass Geißler zum Schluss der Schlichtung einen neuen Vorschlag unterbreitete - einen kombinierten Kopf- und Tiefbahnhof - machte die Angelegenheit nicht einfacher. Die CDU spottete, jetzt müsse Grün-Rot über drei Varianten abstimmen lassen und wünschte "viel Spaß". Aber auch in der ursprünglichen Version bereitet das Referendum vielen Grünen Kopfschmerzen. Wegen des hohen Quorums - die CDU weigerte sich, einer Verfassungsänderung für niedrigere Hürden zuzustimmen - ist eine Mehrheit für Stuttgart 21 sehr wahrscheinlich.

Der knorrige SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel drohte den Grünen bereits: "Wer den Volksentscheid in Frage stellt, stellt die Koalition in Frage." Sofern das Projekt nicht noch an juristischen Problemen scheitert oder die Kosten doch noch explodieren ( die Bahn rechnet derzeit noch einmal nach), müsste Kretschmann am Ende Stuttgart 21 mittragen. In Anbetracht der "Härte des Themas" habe man es "bislang gut gehandelt bekommen", sagte Kretschmann am Mittwoch.

Ungewohnte Kulisse: An einem kleinen Tisch und ohne Sonnenschirm fassen Kretschmann und Schmid an der Seite von Regierungssprecher Rudi Hoogvliet vor der Villa Reitzenstein die Resultate der ersten Arbeitswochen zusammen. (Foto: dapd)

[] Auch die Energiepolitik gestaltet sich schwierig. Zwar stimmte Kretschmann im Bundesrat für den Atomausstieg, den er in der 100-Tage-Bilanz als ersten Punkt erwähnte und einen "ganz wichtigen und durchschlagenden Erfolg" nannte. Die Grünen hatten im Ländle stark vom Stimmungswechsel in der Gesellschaft nach dem GAU im japanischen Fukushima profitiert.

Aber der Stromkonzern Energie Baden-Württemberg (EnBW), der beinahe zur Hälfte dem Land gehört, lebte in der Vergangenheit vor allem von Kernenergie. Seine Übernahme hatte Kretschmanns Vorgänger Stefan Mappus (CDU) eingefädelt, die Kosten sollten mit der Dividende aufgefangen werden. Die könnte jetzt deutlich geringer ausfallen, weil durch den kleineren Atomkraftanteil die Gewinne einbrechen.

Problematisch könnte es für die Grünen auch werden, wenn die von Kretschmann geforderte ökologische Wende des Landes in die Realität umgesetzt wird. Der Widerstand gegen neue Stromtrassen, Windräder und Pumpspeicherwerke dürfte heftig ausfallen - die Demonstranten werden sich an Stuttgart 21 ein Beispiel nehmen. Hier werden Kretschmanns Fähigkeiten als Moderator besonders gefordert sein.

Der Ministerpräsident betonte, es komme ihm nicht auf Geschwindigkeit an, "sondern darauf, dass wir die Dinge handwerklich gut machen". Die Interessen der Bürger müssten stets berücksichtigt werden. In der CDU wird jedoch geunkt, mit dem "Wohlfühl-Hype" sei es bald vorbei.

Dass Kretschmann einen umweltfreundlicheren Dienst-Mercedes bestellte und sein Verkehrsminister Winfried Hermann eine Elektro-A-Klasse fährt, ist angesichts der noch ausstehenden Großprojekte wohl als Symbolpolitik einzuordnen - und als Signal an die Automobilbranche.

[] Die Wirtschaft ist über ihre Wut auf Kretschmann nach dessen Äußerungen beim Amtsantritt ("Weniger Autos sind natürlich besser als mehr") längst hinweg. Medienwirksam ließ sich der Ministerpräsident kurz nach Amtsantritt in einem Elektro-Porsche chauffieren und lobte die Entwicklungsarbeit des Zuffenhausener Konzerns. "Wir sind keine Freunde geworden, aber wir sind gute Partner geworden", sagte daraufhin Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück.

Der für die Wirtschaft zuständige SPD-Minister Schmid betonte am Mittwoch, das Land solle wirtschaftlich stark bleiben. "Wir wollen Beschäftigung und Wachstum oben halten." Zentrale "Modernisierungsthemen" seien angegangen worden.

Zwiespältige Gefühle äußerte unlängst der Präsident des Industrie- und Handelskammertags Baden-Württemberg, Peter Kulitz, im Hinblick auf 100 Tage Grün-Rot: "Die Wirtschaft war offen und neugierig. Das ist auch jetzt noch so", sagte er der Financial Times Deutschland. Jedoch sorgten sich viele Unternehmer um die Energiesicherheit. Und auch bei der Finanzpolitik von Grünen und SPD sowie beim Personal sei man skeptisch.

[] Die Haushaltspolitik der Regierung ist umstritten. Kretschmann hatte versprochen, den Landesetat bis 2020 zu sanieren. Doch sein Finanzminister Schmid fand nach eigener Aussage höhere Belastungen, als die schwarz-gelbe Vorgängerregierung angegeben hatte. Und obwohl die Steuereinnahmen dank der überraschend guten Wirtschaftslage um eine Milliarde Euro steigen sollen, nimmt die Regierung höhere Schulden auf. "Das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts wird ohne Not auf 2019 verschoben", kritisierte CDU-Fraktionschef Hauk. Dieses Ziel sei viel früher zu erreichen.

Kretschmann hielt in seiner 100-Tage-Bilanz dagegen: "Es geht uns nicht um schöne Zahlen, sondern Strukturen, die es uns ermöglichen, bis 2020 einen ausgeglichen Haushalt zu haben."

Dass Grün-Rot auch den Regierungsapparat um 180 Stellen aufstockte, gibt der Opposition zusätzlichen Anlass zur Häme: "Wo bisher wenig geleistet wurde, fällt es eigentlich schwer, Bilanz zu ziehen", sagte Hauk. Der Landesvater machte jedoch klar, dass man "ganz neu beginnen" habe müssen.

[] Auf frühe Erfolge kann Grün-Rot bei der Bildungs- und Gesellschaftspolitik verweisen: Ab dem Sommersemester 2012 fallen die Studiengebühren weg. Das entsprechende Gesetz ist auf dem Weg, damit ist ein Wahlversprechen eingehalten worden. Auch die verpflichtende Empfehlung der Grundschullehrer für den Übergang ans Gymnasium wurde abgeschafft. Kretschmann betonte zudem die verbesserte Gleichstellung Homosexueller und die Einführung des Integrationsministeriums, die die "Debatte in die Mitte der Gesellschaft" gerückt habe.

[] Kontroverse Personalentscheidungen. Bilkay Öney zur neuen Integrationsministerin gemacht zu haben, gilt entsprechend als einer der größten grün-roten Erfolge, was das Personal betrifft. Die türkischstämmige Sozialdemokratin wurde in der Stuttgarter Zeitung jüngst als "gern gesehene und eloquente Gesprächspartnerin" geadelt.

Als Sorgenkind galt Verkehrsminister Winfried Hermann. Der erklärte Stuttgart-21-Gegner habe "den Wechsel vom Parteipolitiker zum regierenden Minister noch nicht komplett vollzogen", kritisierte IHK-Chef Kulitz. Zuletzt bekam Hermann viel Lob für seine Diplomatie bei der Präsentation der Stresstest-Ergebnisse von Stuttgart 21. Dennoch bleibt der Verkehrsminister ein Hauptangriffspunkt der Opposition.

Dass deren Kritik nach 100 Tagen relativ gemäßigt ausfällt - die FDP spricht von einer "Katerstimmung" im Land - darf Kretschmann und Schmid in ihrer Einschätzung bestärken, den Start zumindest nicht versemmelt zu haben.

Während in Stuttgart die Mittagssonne brannte, betonte der Ministerpräsident im Garten der Villa Reitzenstein: "Wir pflegen einen offenen Dialog mit den Bürgern und einen Regierungsstil ganz ohne Machtattitüde." Wer ihn kenne, der wisse, "dass ich mich durchaus in Situationen begebe, wo ich richtig Gegenwind bekomme."

Zumindest beim Thema Stuttgart 21 dürfte das noch ziemlich oft der Fall sein.

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