100 Jahre Erster Weltkrieg:Merkel und Hollande in Verdun: Wie zwei Verwandte

Der französische Präsident und die Bundeskanzlerin gedenken der Hunderttausenden Toten mit einem Bekenntnis zur Freundschaft - und zur Hoffnung, die aus dem Grauen erwächst.

Von Christian Wernicke, Verdun

Am Ende halten sie dann doch einander die Hand. Hier bei Verdun, fürs Foto, als dritten von drei Momenten fürs Geschichtsbuch. Kurz zuvor hatten Angela Merkel und François Hollande gemeinsam die ewige Flamme im Beinhaus von Douaumont neu entzündet. Das Feuer leuchtet warm in dem Gewölbe, wo die Knochen von 130 000 französischen und deutschen Soldaten liegen. Da schmiegt die Kanzlerin ihre rechte Hand in die linke von Frankreichs Präsidenten. Ein Blick, ein Lächeln - vollbracht! Eigentlich, so hatten sich beide Seiten geschworen, sollte dies kein Tag der großen Gesten werden. "Das Foto von Verdun ist längst geschossen", hatte ein Berliner Diplomat gewarnt, "niemand kommt gegen 1984 an", raunte es aus dem Élysée.

32 Jahre ist es her, dass François Mitterrand und Helmut Kohl sich im Angesicht der Schlachtfelder minutenlang die Hände reichten. Ein Präsident und ein Kanzler als Brüder im Frieden - gegen die Macht dieses Bildes vom 22. September 1984 kommt niemand an. Bloß kein Staatstheater. "Erwarten Sie nicht, dass es ein solches Foto gibt", hatte der deutsche Regisseur Volker Schlöndorff zum französischen Präsidenten gesagt, als dieser ihm voriges Jahr den Auftrag zur Inszenierung der Schlussfeier vor dem Beinhaus erteilte. 100 Jahre Verdun, 300 000 Tote in 300 Kriegstagen.

Dieser Hölle wollten sie an diesem 29. Mai 2016 anders gedenken. Und es kam anders als geplant. Weil der schwarzgraue Himmel zu tief hängt über den Hügeln Ostfrankreichs, kann der Hubschrauber nicht starten. Hollande und Merkel kommen im Auto, sind eine dreiviertel Stunde zu spät. Es regnet in Strömen, als Hollande am deutschen Soldatenfriedhof von Consenvoye seiner Staatskarosse entsteigt. Er schüttelt die Hände von Landsleuten, die hier seit Stunden der nassen Kälte trotzen. "Typisches Hollande-Wetter", sagt grinsend ein Augenzeuge: Frankreichs glückloser Präsident stand bekanntlich schon am Tag seiner Amtseinführung in Paris pitschnass im Wolkenbruch.

Wieder steht Hollande im Regen, ohne Schutz. Erst fünf Minuten später, nach den Begrüßungsküsschen mit der Kanzlerin, öffnet der Präsident einen Schirm. Für Angela. Gemeinsam mit vier Kindern - zwei Deutschen, zwei Franzosen - legen sie einen Kranz nieder, sie verneigen sich vor den genau 11 148 deutschen Soldaten, deren sterbliche Überreste hier begraben sind. Zwei Trompeter blasen streng paritätisch zwei Melodien. Dann herrscht würdige Stille, minutenlang. Kein Vogel singt, zu hören sind nur die Regentropfen, die wie Tränen auf die Gräber schlagen.

Dann folgt der erste memorable Moment dieses 29. Mais 2016. Präsident und Kanzlerin gehen über den Friedhof, ganz allein, sehr bedächtig. Merkel und Hollande sprechen beide passabel Englisch. Und sie verstehen sich, längst sind Angela und François Duzfreunde. Manchmal lächelt die Kanzlerin sogar. Dies ist kein Staatsakt, und doch entwickelt dieser schlichte Moment zwischen schwarzen Grabkreuzen seine Kraft: Das deutsch-französische Paar wirkt wie zwei Verwandte, die sich an diesem Sonntag getroffen haben, um ihrer Vorfahren zu gedenken.

Deutsch-französische Freundschaft, gemeinsames Europa: Lehren aus Verdun

Der zweite Akt der Geschichtsschreibung findet im Rathaus der Stadt Verdun statt. Es ist der Moment, der dem 29. Mai 2016 seine tiefere Bedeutung schenkt. Kein hoher deutscher Politiker, auch kein Helmut Kohl, hatte je diese Hallen betreten. Verdun diente der französischen Nation schon vor Ende der Schlacht im Dezember 1916 als Märtyrerstadt. Aus dem Symbol des heldenhaften Widerstands gegen die deutschen Eroberer zog die französische "Résistance" im Zweiten Weltkrieg ihren Mut. Jetzt aber, 100 Jahre danach, wollen die Franzosen dem Mythos Verdun neuen Sinn einhauchen: Nicht länger patriotischer Heldenort - sondern "Ville de la Paix". Hauptstadt des Friedens, ähnlich wie das japanische Hiroshima.

Mit hochrotem Kopf versichert Bürgermeister Samuel Hazard der Kanzlerin, "wie stolz wir sind, Sie hier begrüßen zu dürfen." Der Sozialist war gerade mal fünf Jahre alt, als Kohl und Mitterrand 1984 sich die Hand hielten. In der Antwort der Kanzlerin steckt die Losung für den Tag - der Blick nach vorn: "Nur wer die Vergangenheit kennt, kann auch Lehren aus ihr ziehen und eine gute Zukunft gestalten."

Um die Zukunft, so schwört dann auch Hollande, müsse es künftig gehen in Verdun. Der Präsident lächelt, da er sich seiner Besucherin zuwendet: "Dank Ihnen, liebe Angela, wird Verdun nicht nur geehrt wegen seiner Vergangenheit des Leidens, sondern wegen seiner Botschaft der Hoffnung." Die deutsch-französische Freundschaft, das gemeinsame Europa - das seien die wahren Lehren von Verdun.

Feldpost-Zitat in der Gedenkstätte: "Mutter, warum hast Du mich geboren?"

Seit Jahren wird die Erinnerung umgebaut in Verdun, in den Köpfen wie im Beton. Am Sonntag enthüllten Hollande und Merkel im Beinhaus von Douaumont eine Gedenktafel, die nun endlich - 100 Jahre danach - erklärt, dass in dieser kalten Halle neben französischen auch haufenweise deutsche Gebeine liegen. Und auch das Memorial von Verdun, das mitten auf dem Schlachtfeld früher eine sehr französische Sicht von Mord und Totschlag bot, präsentiert seit seiner Neueröffnung im Februar eine universelle, zutiefst menschliche Botschaft: "Es geht um das Leiden der Soldaten", erklärt Direktor Thierry Hubscher, "jedes Objekt unserer Ausstellung soll einen Eindruck, ein Gefühl vermitteln von dem, was hier geschehen ist".

Eine gute halbe Stunde lang hat Hubscher Präsident und Kanzlerin durch sein Haus geführt, das mit allen Tricks multimedialer Kunst die Hölle von Verdun auferstehen lässt. Scheinbar liegen Leichenteile unter dem gläsernen Fußboden, auf einer riesigen Leinwand der Krieg mit Granaten und Toten. Und in einem dunklen, gedrungenen Raum leuchten Feldpost-Zitate an der Wand: "Mutter, warum hast Du mich geboren. Warum muss ich solches erleiden?"

Am Ende zeigt Hubscher seine Lieblingsvitrine: Kleine Enten, Kühe und Pferde aus Holz, die ein französischer Gefreiter im Schützengraben für seine Tochter geschnitzt hatte. Der Mann hat sein Kind nie wiedergesehen. Sein Schnitzwerk ist nun Mahnmal - für die Zukunft aus Verdun.

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