Süddeutsche Zeitung

100 Jahre Erster Weltkrieg:Ein Riss in der Zeit

Ein Gemetzel, das die Menschen um Seele und Verstand brachte: Warum uns der Erste Weltkrieg auch hundert Jahre nach seinem Ausbruch unverständlich bleibt.

Von Lucian Hölscher

Auch hundert Jahre nach seinem Ausbruch bleibt uns der Erste Weltkrieg unverständlich. Das liegt nicht so sehr an Mängeln seiner reichlich späten historischen Aufarbeitung als vielmehr daran, dass uns die Welt, in der dieser Krieg die Menschen von Grund auf erschütterte, fremd geworden ist.

Die Hoffnungen, die ihn trugen, sind zerstoben, das Entsetzen, das er auslöste, zu vertrauten Formeln geronnen, die Kriegsgräuel längst von späteren überboten: Zehn Millionen Tote - im Zweiten Weltkrieg waren es weit mehr. Kriegspropaganda, Zwangsarbeit und ethnische Vertreibungen- auch sie gab es schon im Ersten Weltkrieg, doch der Zweite übertraf ihn darin noch bei weitem.

Im Ersten Weltkrieg allerdings waren die Erfahrungen des modernen, industriell geführten Krieges noch neu, die seelische Erschütterung der Menschen daher grundsätzlicher. In ihm zerbrachen nicht nur die Körper der Menschen, sondern auch ihre Seelen und ihr Verstand.

Dies war in erster Linie Folge einer Kriegsführung, die die Soldaten extremen, widersprüchlichen und bislang unbekannten Eindrücken aussetzte: etwa dem extremen Gegensatz von wochenlangen Aufenthalten in regenüberfluteten Schützengräben und der Idylle friedlicher Einquartierungen; Naturerlebnissen von überwältigender Schönheit und apokalyptisch zerstörten Landschaften; von brüllenden Schlachten bei Tag und der Totenstille nächtlicher Wachen.

Darunter litt die seelische Gesundheit der Soldaten fast noch mehr als unter den physischen Belastungen: Anhaltende Müdigkeit bildete nachts bei der Wache eine oft tödliche Gefahr. Sie wechselte dann aber mit Phasen überheller Wachheit ab, wenn der Kampf begann und wenn bei einem Angriff die Richtung und Art der tödlichen Geschosse nur noch über das Gehör geortet werden konnte.

Auch in der Heimat hatte schon in den ersten Kriegstagen, wie Stefan Zweig in seinem Tagebuch festhielt, eine abgrundtiefe Müdigkeit die Menschen ergriffen: Nachts konnten sie aus Sorge um das Schicksal der ins Feld gezogenen Männer nicht schlafen, tagsüber verdämmerten sie die Stunden in Erwartung großer Ereignisse.

Zur extremen Anspannung der Sinne an der Front trug auch der ohrenbetäubende Lärm der großen Geschütze bei, etwa der "Dicken Berta", die den Stolz der deutschen Militärführung bildete. Er zerrüttete die Nerven und führte massenhaft zu bleibenden Schäden. Die Zahl der durch sie psychisch Zerrütteten, der als "Kriegsschüttler" und "Zitterer" mehr diffamierten als medizinisch diagnostizierten Kriegsopfer, ging bald in die Hunderttausende.

Nicht erschossen, sondern nervlich zermürbt zu werden, galt der militärischen Führung als unehrenhafte Form der Verwundung. Die Ängste, die solche Gefährdungen bei den Betroffenen auslösten, die Unbeherrschbarkeit der Gliedmaßen, die sie hervorriefen, nährte den Verdacht unmännlicher Schwäche und verräterischer Neigung zur Drückebergerei.

Und in der Tat nahm der Kampf zwischen Täuschung und Unterdrückung in der Armee bald extreme Formen an. Unerfahren in der Diagnose und hilflos in der Therapie fingen die Militärärzte die Betroffenen meist in frontnahen Lazaretten auf. Die Behandlung mit Elektroschocks verfolgte hier in der Regel das Ziel, sie müsse für die Patienten jedenfalls abschreckender sein als der Einsatz an der Front. Dorthin wurden die Nervenkranken dann auch meist wieder geschickt, um einen "ehrenhaften" Tod zu sterben.

Widersprüchlich und brüchig wie die Sinneserfahrungen waren auch die Zeiterfahrung der Zeitgenossen: Sie schwankten schon vor dem Krieg zwischen der Wahrnehmung eines langfristigen Kulturverfalls und der Hoffnung auf einen kurzen erfrischenden Krieg, der wie ein Gewitter über das Land ziehen, dieses dann aber in neuem Glanz erblühen lassen werde.

Der Krieg, dem die Menschen 1914 entgegensahen, hatte nur wenig gemein mit dem vierjährigen Gemetzel, an das sie sich im Nachhinein erinnerten. Dem hätten sie wohl schon damals, als sich viele einem militaristischen Triumphalismus hingaben, kaum zugestimmt.

Vor allem an der Westfront ließ die nervenzermürbende Strategie des Stellungskriegs das Zeitgefühl immer mehr erstarren. Je totaler der Krieg wurde, desto mehr steigerte sich der abrupte Wechsel zwischen den Zeitexplosionen kurzer Augenblicke und einer vollständigen zeitlichen Desorientierung in den langen Ruhepausen zwischen den Schlachten: Spätestens seit 1916 stellte sich bei vielen Soldaten daher ein Gefühl der völligen Überspannung und Erschöpfung der Kräfte ein.

Die viel zitierte Kriegsmüdigkeit der zweiten Kriegshälfte war daher weniger die Folge der langen Kriegsdauer als vielmehr Folge des Verlustes zeitlicher Orientierung überhaupt: Aufwand und Gewinn standen in keinem kalkulierbaren Verhältnis mehr zueinander, Vergangenheit und Zukunft in keinem Zusammenhang mit der Gegenwart, sie brachen so als Deutungsräume des aktuellen Geschehens weg. Zufall und Schicksal gewannen dagegen einen ganz neuen Stellenwert als Signaturen einer spontanen Neuerschaffung der Welt aus der unkalkulierbaren Notlage heraus.

Auch die Zeithorizonte zwischen Front und Heimat gingen jetzt oft weit auseinander: Warteten beide zu Beginn des Krieges noch gemeinsam auf Sieg und Frieden, so bildeten die folgenden Kriegsjahre für die Heimatbevölkerung eher eine lange Strecke von Entbehrungen und Verlusten, für die Frontsoldaten dagegen ein Aussetzen, im Extremfall sogar einen Abbruch der Zeit überhaupt.

Während der Gefechte stand den Frontsoldaten der Tod täglich und stündlich vor Augen. Er nistete sich sogar bei denjenigen, die nicht starben, auf die Dauer so ein, dass er gewissermaßen immer schon erlitten war. Viele erlebten daher den massenhaften, anonymen und unheroischen Tod um sich herum so, als seien auch sie eigentlich schon gestorben, der Akt des Sterbens nur äußerlich noch nicht vollzogen.

Diese Erfahrung konnte sich über die Soldaten manchmal wie eine Art von Trance legen, die Unwirklichkeit der Zeiterfahrung an der Front schnürte sie von den Hoffnungen und Ängsten der Verwandten und Freunde in der Heimat ab. Daher wurde auch das Kriegsende von ihnen oft nicht als wirkliche Befreiung, sondern eher als neue Phase des Albtraums erlebt. Die neue Welt der Nachkriegsgesellschaft hatte nichts mehr mit der Welt vor diesem Krieg, weder im Guten noch im Schlechten, zu tun.

Wie aber lässt sich die Geschichte dieses Krieges heute noch erzählen? Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs lassen sich im Nachhinein nicht mehr einholen. Ihren Wertverlust im Krieg hatte schon Walter Benjamin 1933 festgehalten: "Die Erfahrung ist im Kurs gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat." Was die Väter ihren Söhnen zu sagen hätten, gelte nichts mehr, deshalb müssten diese in ihrer Erfahrungsarmut wieder ganz von Vorne anfangen.

Und doch zieht sich ein existenzielles Band durch die Generationen: Es sind unsere Groß- und Urgroßeltern, die in den Krieg zogen, die ihren Kindern ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen versuchten weiterzugeben. Ihr Scheitern ist uns, über alle Neuanfänge hinweg, eingezeichnet.

Denn was sie ihren Kindern mitgaben, taugte, wie sich zeigte, nur selten dazu, sie auf den neuen Krieg vorzubereiten. So endete auch er in der Katastrophe und stellte die Nachkriegsgeneration ein weiteres Mal vor einen neuen Anfang. Erfahrungsbrüche und enttäuschte Erwartungen sind gerade in Deutschland im 20. Jahrhundert immer wieder zu historischen Faktoren geworden.

Bei den Siegermächten gab es über alles Leid hinweg im Sieg der Idee der liberalen Demokratien eine letzte Antwort auf die Frage, wofür die Opfer gut gewesen waren. Etwas hält sich auch heute noch durch, über alle Fremdheit zwischen den Generationen, die auch dort eingetreten ist. In Deutschland dagegen versuchen wir vergeblich, über den Geschichtsbruch des Ersten Weltkriegs hinweg die Grundlagen des Fühlens und Denkens der Zeitgenossen, ihre Erfahrungen und Wertungen in uns wieder zu beleben. Alles Verstehen dieser Zeit ist deshalb trügerisch - geht es doch von Kenntnissen, Wertungen und Weltbildern aus, die damals noch nicht bestanden.

Die Geschichtswissenschaft stellt dies, nicht erst heute, vor die Aufgabe, das Unverständliche zu verstehen. Dazu ist es notwendig, die Natur moderner Geschichtsbrüche zu begreifen. Mit einem Geschichtsbruch beginnt nicht nur eine neue Epoche, es wird nicht einfach ein neues Kapitel im Geschichtsbuch aufgeschlagen.

Wenn die Geschichte bricht, dann bricht der ganze geschichtliche Horizont zusammen, in dem sich Menschen existenziell verorten: Worauf man bisher glaubte bauen zu können, erweist sich als brüchig. Und selbst die Vergangenheit stellt sich ganz anders dar als zuvor. Geschichtsverläufe über Geschichtsbrüche hinweg lassen sich nicht verstehen, sondern nur in ihrer Unverständlichkeit beschreiben.

Im Ersten Weltkrieg ist in Deutschland das gemeinsame Band der Geschichte zwischen den Generationen, aber auch zwischen den Tätern und Opfern des kriegerischen Gemetzels gerissen. Der Verlust des Vertrauens, einer gemeinsamen Geschichte und Gesellschaft anzugehören, schleppt sich seither über die Jahrzehnte fort.

Wir begegnen den Symptomen im Verstummen der aus dem Krieg Heimgekehrten gegenüber dem Leid auf den Schlachtfeldern, in den traumatischen Erfahrungen der Opfer des Krieges und der ethnischen Verfolgungen, in der Unfähigkeit der Kriegsgeneration, den Jüngeren die Umstände klar zu machen, unter denen sie selbst gehandelt und empfunden haben.

Dieser Verlust lässt sich auch heute nicht beheben: Verstorben sind die Zeitgenossen, verblasst und weitgehend unglaubwürdig geworden sind deren Werte und Orientierungsmuster. Eine unmittelbare Brücke zum Verständnis dieser Vergangenheit gibt es nicht mehr.

Nur die Umstände, unter der das Vergangene entstand und verging, lassen sich noch rekonstruieren. So können wir erfahren, woher wir kamen, wenn auch gebrochen durch die Fremdheit des Vergangenen. Diese Fremdheit bleibt dauerhaft eingewoben in die Bilder der Vergangenheit. Auch sie eröffnet ein Verständnis - aber ein Verständnis auf Distanz.

Lucian Hölscher lehrt Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Universität Bochum.

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SZ vom 24.01.2014/odg
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