19. Bundestag:Lauter, leidenschaftlicher, provokativer - die neue Zeit beginnt am ersten Tag

Die AfD ist beleidigt, die SPD opponiert - und Jamaika hält fest zusammen. Die konstituierende Sitzung des Bundestages zeigt schnell, wie die nächsten vier Jahre aussehen könnten.

Von Stefan Braun, Berlin

Es geht sofort los. Gleich in den ersten Sekunden. Kaum haben die gut 700 Abgeordneten Platz genommen und lauschen dem Für-einen-halben-Tag-Alterspräsidenten Hermann Otto Solms, da ist schon die AfD das Thema. Erster Tagesordnungspunkt der neuen Legislaturperiode: die Absetzung des Sitzungsleiters. Es dauert keine fünf Minuten, schon kommt die erste Abstimmung, mit der sich die AfD profilieren möchte. Nicht der Dienstälteste soll als Alterspräsident antreten; die Versammlung soll den nach Lebensjahren Ältesten akzeptieren und neu wählen. Natürlich, weil das einer von der AfD ist. Bei der sofortigen Abstimmung darüber lehnt die große Mehrheit ab. Die AfD aber hat ihren ersten Punkt gemacht. Wie im Wahlkampf bestimmt sie auch im Bundestag sofort die Debatte.

Konstituierende Sitzungen sind in der Vergangenheit gerne wie große Klassentreffen nach den Sommerferien gewesen. Man grüßte sich, man lachte, manche herzten sich sogar. Und so gut wie alle Abgeordneten freuten sich, dass es wieder neu losgehen würde. Unvergessen das fröhliche Beieinander vor vier Jahren, als die Union als unangefochtene Wahlsiegerin ins Parlament einzog und alle zusammen glücklich waren, dass es die AfD nicht ins Parlament geschafft hatte. Diese Zeiten sind nun vorbei, das zeigt der Dienstagvormittag binnen Minuten.

Fest macht sich das aber nicht nur an der AfD. Auch der altliberale Solms nutzt seine Rolle, um in gepflegten Worten seinen Zorn der letzten vier Jahre loszuwerden. Er zeigt nicht nur seine Freude über die Rückkehr der Freien Demokraten, sondern appelliert wie vielleicht noch keiner seiner zahlreichen Vorgänger ans Selbstbewusstsein der Parlamentarier - das ihm offenkundig zu klein war in den letzten vier Jahren.

"Der Bundestag wählt seine Regierung, nicht die Regierung ihr Parlament", sagt Solms und erntet vor allem bei denen Beifall, die in der letzten Legislaturperiode nicht dabei waren. Auch die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin nimmt sich Solms vor, um zu erklären, dass die sich nur und ganz alleine auf die Regierung, "nicht auf die Entscheidungsfindung im Parlament" beziehe. Deutlicher als erwartet richtet sich Solms nicht nur an die eigenen Leute und an die wahrscheinliche Opposition. Seine Botschaft sendet er auch an die Abgeordneten der Unionsparteien und die Kanzlerin persönlich. Er liest manchmal etwas unsicher ab, verspricht sich hier und da. Man merkt ihm an, dass ihm wichtig ist, was er an diesem Tag sagt. Auch ein erfahrener Parlamentarier kann in so einem Moment nervös werden.

Zumal er dann noch etwas anderes tut: Er zeigt nicht auf die möglicherweise schwierige AfD, die künftig im Bundestag sitzt. Er mahnt alle anderen, keine Sonderregelungen zu schaffen; niemand soll ausgegrenzt, niemand stigmatisiert werden. Es ist seine Brücke, um danach an das Verantwortungsgefühl der AfD-Parlamentarier zu appellieren. Gemäß dem Motto: Wenn ich eure Rechte verteidige, kann ich euch auch in die Pflicht nehmen. Zum Ende erklärt Solms, er halte es für richtig, dass ab sofort im Parlament wieder mehr und über alles diskutiert werde. Aufgabe aller sei es nun, "die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit wieder dahin zurückzuholen, wo sie hingehören - in den deutschen Bundestag". Das klingt gut - und ist eine scharfe Kritik am Parlament der letzten Legislaturperiode.

Dass die Auseinandersetzungen künftig lebendiger, strittiger, leidenschaftlicher geführt und dabei auch mit Provokationen unterfüttert werden dürften, lässt sich nach dem Solms-Auftritt sehr gut studieren. Noch vor der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten (Wolfgang Schäuble wird mit 501 von 705 abgegeben Stimmen bestätigt), zeigt ein harscher Schlagabtausch über die künftige Geschäftsordnung, wie die Fronten in den nächsten vier Jahren verlaufen könnten.

Der Sozialdemokrat Carsten Schneider stürzt sich dabei schon in den ersten Sätzen so sehr in die Opposition, dass man sich fragt, wie er mit Angela Merkel und der Union je regieren konnte. "Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, warum jetzt eine rechtspopulistische Partei im Parlament ist", klagt der SPD-Mann. Er prangert Merkels "Vernebelungsstrategie" im Wahlkampf an. Diese nämlich sei schuld an der Stärkung der Ränder. So sehr wirft er sich in diesen Angriff, dass er gar nicht merkt, wie nah er mit seiner Rhetorik all jenen kommt, die "denen da in Berlin" sowieso nur das Schlimmste unterstellen. Dass er kluge und berechtigte Vorschläge zur Stärkung der Fragestunde unterbreitet, verliert durch diese Attacke schon wieder an Wirkung. Opposition muss gut bedacht sein.

Auf ihn folgt Bernd Baumann, der neue Geschäftsführer der AfD-Fraktion. Er zeichnet sofort und schon wieder das Bild einer Partei, die sowieso nur ausgegrenzt werde. Dabei kritisiert er nicht nur die Tatsache, dass die Fraktionen kurz vor dem Ende der letzten Legislaturperiode die Regeln geändert hatten, um einen AfD-Alterspräsidenten zu verhindern. Er vergleicht die Lage heute mal eben mit der Lage unter den Nationalsozialisten, als Hermann Göring 1933 Clara Zetkin verhindert habe. Es ist ein garstiger Vergleich; Baumann konnte ahnen, wie sich nun alle empören. Und das zeigt, wie sehr er genau darauf aus war. "Wie groß muss die Angst vor der AfD sein", fragt Baumann. Er weiß, er wird mit seinem Antrag nicht durchkommen, die Regeln wieder zu ändern. Er lächelt aus einem anderen Grund: weil er die Provokation unters Volk gebracht hat.

Jamaika hält bereits zusammen

Doch damit nicht genug der Schärfe. Auch die zurückgekehrte FDP teilt aus. In diesem Fall ist es nicht Parteichef Christian Lindner, sondern Marco Buschmann. Lindners engster Mitstreiter hebt die Bedeutung konstituierender Sitzungen für ein Parlament im Allgemeinen und den Bundestag im besonderen hervor - um anschließend zu erklären, wie "klein" und lächerlich er es finde, dass manche in so einer Sitzung über eine Geschäftsordnungsdebatte erste parteipolitische Punkte sammeln wollten. Die AfD geriere sich natürlich wieder als Opfer, die Linkspartei gebe sich mit dem Ruf nach schneller Bildung wichtiger Ausschüsse scheinheilig. Dass aber neben "der extremen Rechten und der extremen Linken" auch die "altehrwürdige SPD" auf derart billige Punkte aus sei, empfinde er als große Enttäuschung. Buschmann hat keine eigenen Forderungen, aber auch er zeigt, wie scharf die Debatten mit Leuten wie ihm werden.

Danach geschieht etwas, das so wahrscheinlich nicht geplant war: Noch bevor eine Jamaika-Koalition auch nur in Reichweite ist, lehnt Jamaika alle Änderungsvorschläge der Opposition ab. Union, Grüne und FDP sitzen ab sofort nicht nur noch enger zusammen; sie stimmen auch schon ab, als würden sie längst zusammengehören. Immer und immer wieder sagt Solms, der Antrag sei "mit den Stimmen von Union, FDP und Grünen abgelehnt worden". Der Satz könnte in den nächsten vier Jahren noch oft fallen.

Bei aller neuen Lebhaftigkeit gibt dann aber Wolfgang Schäuble den wichtigsten Rahmen. Gewählt wird er mit 501 von 705 abgegebenen Stimmen. Der 75-Jährige sorgt auf seine ganz eigene Weise für ein wenig Beruhigung. Er erinnert nämlich daran, dass es auch in früheren Jahrzehnten schon sehr angespannte Zeiten und entsprechend harsche Auseinandersetzungen gab.

Als er 1972 das erste Mal ins Parlament kam, habe das ganze Land über die Ostverträge gestritten. "Die Stimmung war aufgeladen, und überhaupt prägte seinerzeit eine extrem spannungsvolle Atmosphäre das Land", erzählt der Christdemokrat, der tatsächlich schon viele Konflikte erlebt hat. Ja, das Land und die Gesellschaft seien seit den sechziger Jahren "in einem bis dahin nicht gekannten Maß politisiert, mobilisiert und polarisiert" gewesen.

Geschadet aber habe das nie, sagt Schäuble. Und begründet das mit einer Botschaft, die er auch für die Zukunft ausgibt: Streit ist nicht nur erlaubt, er ist nötig, um in einer liberalen Demokratie einen Ausgleich der Interessen zu erreichen. "Demokratischer Streit ist notwendig. Aber es ist ein Streit nach Regeln." Und der Streit habe eine Bedingung: dass man anschließende Mehrheitsbeschlüsse akzeptiert und sie nicht "als illegitim oder verräterisch oder sonst wie denunziert". Schäubles Plädoyer zeigt: Er definiert früh, um was es geht. Weil er genau ahnt, was jetzt auf ihn zukommt.

Und das ist an diesem ersten Tag nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende die AfD. Als die Ergebnisse für die stellvertretenden Parlamentspräsidenten bekannt werden, ist klar, dass alle Parteien ihre Kandidaten durchgebracht haben, nur nicht die Rechtspopulisten. Das ist in diesem Moment keine Überraschung, es dürfte der AfD eher recht sein. Denn sie wusste, dass ihr Kandidat Albrecht Glaser unterliegen würde - aber sie wollte die Debatte fortsetzen, die er mit seinen Äußerungen zum Islam ausgelöst hatte. Der Kampf gegen den Islam und die mitschwingende Ablehnung aller Flüchtlinge - das hat für die AfD konstitutive Bedeutung. Deshalb geht am Nachmittag das Ganze mit einem zweiten und dritten Wahlgang weiter. Dabei ist der Ausgang nicht offen, sondern vorher entschieden. Die AfD hält den Konflikt am Leben, und alle anderen Parteien werden nicht klein bei geben.

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