1970:Als die Schweiz einen Geheimdeal mit den Palästinensern schloss

Anschlag auf Maschine der Swissair 1970

Spurensuche in den Trümmern: Im Februar 1970 stürzte eine Swissair-Maschine auf dem Weg nach Tel Aviv in ein Waldstück bei Würenlingen.

(Foto: dpa)
  • In den Jahren 1969 und 1970 verüben palästinensische Terroristen eine Reihe von Anschlägen auf die Schweiz.
  • Eine Handvoll Schweizer Politiker setzt der Gewalt schließlich durch ein Geheimabkommen mit der Palästinenischen Befreiungsorganisation ein Ende.
  • Erst jetzt wird der geheime Deal, von dem auch die Terroristen profitierten, bekannt - und sorgt für ein großes Echo in der Schweiz.

Von Charlotte Theile, Zürich

45 Jahre lang hat Jean Ziegler geschwiegen. Aus Anstand, denn alle Parteien hatten Stillschweigen vereinbart. Aber auch aus Furcht. "Zwei Freunde von mir wurden erschossen, und ich bin kein Held" sagt der heute 81-Jährige.

Der bekannte Schweizer Soziologe ist die Schlüsselfigur eines Geheimabkommens aus dem Jahr 1970, das Marcel Gyr, Reporter der Neuen Zürcher Zeitung, nun in dem Buch "Schweizer Terrorjahre" öffentlich gemacht hat. Damals sieht sich die Schweiz mit einer Welle der Gewalt konfrontiert. 1969 wird in Kloten ein Flugzeug der Fluggesellschaft El Al überfallen, der Pilot tödlich verletzt. Im Februar 1970 stürzt nach einem Bombenanschlag eine Maschine der Swissair bei Würenlingen im Kanton Aargau ab. Alle 47 Insassen sterben.

Im September 1970 das nächste Attentat: Eine Swissair, die auf dem Weg nach New York ist, wird nach Jordanien entführt. Ein Spezialkommando der Palästinensischen Volksbefreiungsfront hat das Flugzeug unter seine Kontrolle gebracht. Auch die anderen Anschläge gehen von palästinensischen Terroristen aus.

"Es war die einzige Möglichkeit, Schweizer Leben zu schützen"

Pierre Graber, damals Bundesrat und zuständig für Außenpolitik, will der Gewalt ein Ende machen. Er sucht den direkten Kontakt mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Der Schweizer Nachrichtendienst kann ihm nicht helfen. Graber wendet sich an Jean Ziegler, einen Abgeordneten, der am linken Rand des Schweizer Nationalrats Politik macht.

Der Genfer Soziologe setzt sich für die humanitären Anliegen der Palästinenser ein, seine Schriften ("Gegen die Ordnung der Welt") werden ins Arabische übersetzt. Ziegler hat eine ägyptische Ehefrau, palästinensische Diplomaten sind bei ihm zum Abendessen eingeladen, sitzen in seinen Vorlesungen. Er weiß, wie man mit der Führungsriege der PLO in Kontakt tritt. Wenn Ziegler heute davon spricht, wählt er staatstragende Worte: "Es war die einzige Möglichkeit, Schweizer Leben und Schweizer Interessen zu schützen."

Farouk Kaddoumi, damals Nummer zwei hinter Jassir Arafat, verhandelt bald darauf mit dem Schweizer Bundesanwalt, dem Außenminister, dem Geheimdienstchef. Der Bundesrat wird nicht eingeweiht. Die Schweizer Abordnung und die PLO einigen sich: Obwohl das Bankenparadies für die Palästinenser zum imperialistischen Westen gehört, erklären sie sich bereit, keine Anschläge mehr auf die Schweiz oder Swissair-Flugzeuge zu verüben. Und im Gegenzug? Setzt sich die Schweiz dafür ein, dass die Palästinenser bei den Vereinten Nationen ein Informationsbüro erhalten.

Schreckliche Ungewissheit

"Das war für die Palästinenser damals Gold wert" sagt Ziegler. Mitten im imperialistischen Westen hatten sie einen Ort, an dem ihnen diplomatische Immunität zugesichert wurde. Und auch wenn die Schweiz betonte, ein solches Büro sei etwas anderes als eine offizielle Anerkennung, hob es die Befreiungsfront doch in einen andere Stellung. "Dieses Büro war ein ganz entscheidender Schritt für die Palästinenser", ist Ziegler heute überzeugt. Die Schweiz habe den geheimen Verbündeten sogar abhörsichere Leitungen zur Verfügung gestellt. Bald ändert sich auch international etwas am Status der PLO: 1974 wird sie von den Vereinten Nationen als Vertreterin des palästinensischen Volkes anerkannt.

Doch das ist nicht das Einzige, was die Schweiz für die Palästinenser tut. "Es sind vonseiten der Schweiz unglaubliche Konzessionen eingegangen worden", sagt Ziegler. Unmoralisch sei daran vor allem eines gewesen: "Straffreiheit für die Attentäter." Namentlich im Fall der abgestürzten Maschine über Würenlingen.

In der Schweiz haben die Enthüllungen für großes Echo gesorgt

Obgleich die Verdächtigen bekannt waren, wurde nie Anklage erhoben, das Verfahren schließlich eingestellt. Für die Angehörigen der 47 Todesopfer umgibt die Einstellung des Verfahrens bis heute eine schreckliche Ungewissheit. Auch Reporter Marcel Gyr fehlt der letzte Beweis, dass es aufgrund der geheimen Vereinbarung nicht zu einer Verurteilung gekommen sei. Es spricht allerdings vieles dafür. Mitgefühl mit den Angehörigen habe ihn jetzt dazu gebracht, sein Schweigen zu brechen, sagt Ziegler.

In der Schweiz haben die Enthüllungen für großes Echo gesorgt. Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich, sieht das Handeln des Schweizer Außenministers als Verrat an der Ethik des Neutralen. Zudem handle es sich um einen Verrat an den internationalen Bündnispartnern. Indem die Schweiz einseitig Vorteile herausgehandelt habe, habe sie die Gefahr in allen anderen Ländern erhöht. Ein Vertrauensmissbrauch.

Robert Akeret, der damals im Fall Würenlingen gegen die Attentäter ermittelt hat, sagt, das Abkommen bestätige, was er schon lange vermutet habe: "Dass da auf politischer Ebene ein Agreement getroffen wurde." Die Präsidentin der Gesellschaft Schweiz-Israel übt Kritik: Mit Terroristen verhandle man nicht, wer es doch tue, werde erpressbar.

Jean Ziegler berät heute den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Er glaubt, dass der israelische Geheimdienst etwas von den Verbindungen zwischen Schweizern und Palästinensern gewusst haben könnte. Vollblut-Politiker Pierre Graber sei nach eher kurzer Amtszeit und ohne nachvollziehbare Gründe zurückgetreten. "Ich vermute, dass er den Bundesrat auf Druck der Israelis verlassen hat." Für Ziegler ist klar, dass die Schweizer damals in "guter Absicht" gehandelt hätten, noch mehr Blutvergießen verhindern wollten. Am Sonntag will sich der 81-Jährige mit dem Sohn des in Würenlingen getöteten Piloten treffen.

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