Zwischen Mitleid und Mord:Der Pfleger, der den Tod brachte

Er steht vor Gericht, weil er 29 Menschen im Krankenhaus getötet haben soll - Stephan L. sah sich als Erlöser: "Ich wollte sie aus der Ausweglosigkeit befreien."

Hans Holzhaider

Mitleid: Was ist das für ein Gefühl? Was geschieht in einem Menschen, der einen anderen leiden sieht? Regt sich in ihm spontan der Wunsch zu helfen, das Leiden des anderen zu vermindern?

Zwischen Mitleid und Mord: Mitleid habe ihn dazu gebracht, Patienten zu töten, sagt Pfleger Stephan L.

Mitleid habe ihn dazu gebracht, Patienten zu töten, sagt Pfleger Stephan L.

(Foto: Foto: dpa)

Und wenn ja - welchem inneren Antrieb entspringt dieser Wunsch? Ist es vielleicht so, dass der Mensch unter dem Anblick des Leides anderer selbst leidet, und dass sein Handeln eigentlich dem Bedürfnis entspringt, dieses eigene Leiden zu beenden?

Gibt es wirklich so etwas wie selbstloses Mitleid? Kann man das eine von dem anderen trennen? Lässt sich haarfein differenzieren zwischen "echtem" und "falschem" Mitleid, zwischen reiner Nächstenliebe und reinem Eigennutz?

Stephan L. ist angeklagt, als Krankenpfleger in der Klinik Sonthofen 29 Patientinnen und Patienten getötet zu haben, indem er ihnen zunächst ein Narkotikum und kurz danach ein muskelentspannendes Medikament verabreichte, das unmittelbar zum Tod durch Ersticken führte.

In einer vor Gericht verlesenen schriftlichen Erklärung hat Stephan L. seine Taten damit begründet, er habe den Patienten "Leid ersparen und sie aus der Ausweglosigkeit befreien" wollen.

Totschlag. Oder Mord?

Die Staatsanwaltschaft, bestrebt, die Handlungen des Angeklagten in ein den einschlägigen Strafrechtsparagraphen konformes Schema zu pressen, hat die mutmaßlich durch Stephan L. zu Tode gekommenen Patienten säuberlich in zwei Kategorien aufgeteilt:

Diejenigen, die so schwer krank und leidend gewesen seien, dass "jeder mit normalem rechtlichen und moralischen Wertungsvermögen ausgestattete Beobachter Mitleid mit dem Kranken hätte", und diejenigen, bei denen dies nicht der Fall gewesen sei.

Im ersten Fall könne das von Stephan L. behauptete Mitleid als "begründet, ist gleich verständlich", im zweiten Fall müsse es als "unbegründet, ist gleich unverständlich" gelten. Das ist, nach Auffassung der Anklagebehörde, der Unterschied zwischen Mord und Totschlag. Für Stephan L. ist es der Unterschied zwischen lebenslanger und zeitlich begrenzter Freiheitsstrafe.

Elf Besuche vom Psychiater

Stephan L. ist 27 Jahre alt, ein großer, korpulenter Mann, seit seiner Kindheit kämpft er mit seinem Übergewicht. Er wirkt im Auftreten bescheiden und sympathisch, man kann sich vorstellen, dass schwer kranke und pflegebedürftige Patienten sich bei ihm gut aufgehoben fühlten.

Aber Stephan L. hat eine schwierige, konfliktbeladene Biografie. Mit der psychiatrischen Begutachtung des Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft Kempten den Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen, Professor Klaus Foerster, beauftragt.

Foerster ist ein außerordentlich sorgfältig arbeitender Psychiater. Andere Sachverständige besuchen ihre Probanden zwei- oder dreimal, wenn es hochkommt viermal.

Foerster hat Stephan L. elfmal aufgesucht und sich insgesamt 28,5 Stunden mit ihm unterhalten. Selten weiß ein Gericht so gut über einen Angeklagten Bescheid wie die 1. Strafkammer des Landgerichts Kempten über Stephan L.

Stephans Eltern wurden geschieden, als der Junge dreieinhalb Jahre alt war. Die Mutter heiratete wenige Monate später ein zweites Mal, die leiblichen Eltern stritten um das Sorgerecht für das Kind.

"Ein richtiger Teufel"

Stephan zeigte Besorgnis erregende Verhaltensauffälligkeiten. Im Kindergarten attackierte er andere Kinder und die Erzieherinnen. "Ein richtiger Teufel" sei er gewesen, sagt Stephan L. von sich selbst.

In mehreren psychologischen Gutachten wird die Vermutung geäußert, die Ursachen für diese Verhaltensstörungen könnten bis in die vorgeburtliche Zeit zurückreichen.

Die Mutter sei so übermäßig besorgt um die Gesundheit des ungeborenen Kindes gewesen, dass sie in den letzten sechs Schwangerschaftswochen 13 Fruchtwasserspiegelungen durchführen ließ. Mit dem noch nicht einjährigen Kind sei die Mutter wöchentlich hunderte Kilometer von einem Arzt zum anderen gefahren.

Die Ärzte hätten allerdings keine nennenswerten Krankheitssymptome feststellen können; zu vermuten sei, dass Stephans Mutter ihre eigene Sensibilität für psychosomatische Erkrankungen auf das Kind projiziert habe.

Aufgezwungene Krankenrolle

Die meisten Verhaltensstörungen, mutmaßte ein Psychologe, würden sich ersatzlos verlieren, wenn das Kind aus der ihm aufgezwungenen Krankenrolle entlassen würde.

Die Mutter schickt das Kind in eine Schule für körperlich und geistig Behinderte. "Sie hat immer behauptet, ich sei ein Spastiker und hätte einen frühkindlichen Gehirnschaden", sagt Stephan L.. Das im Auftrag des Gerichts angefertigte testpsychologische Gutachten weist ihn als eine "Persönlichkeit mit sehr hohem intellektuellen Leistungsniveau" aus.

Als Stephan L. sieben Jahre alt war, erkämpfte sich der Vater das Sorgerecht. Dem Gericht schildert der Angeklagte, wie er aus der Wohnung der Mutter abgeholt wurde.

Der Pfleger, der den Tod brachte

Der leibliche Vater erschien in Begleitung eines Gerichtsvollziehers und forderte die Herausgabe des Kindes. "Ich wollte zunächst unsere Wohnung verteidigen und die Eindringlinge in die Flucht schlagen", berichtet Stephan L..

Zwischen Mitleid und Mord: "Tief greifende Störung": Stephan L. im Landgericht Kempten

"Tief greifende Störung": Stephan L. im Landgericht Kempten

(Foto: Foto: dpa)

"Aber dann sagte mein Vater: ,Na, dann geh' ich wieder', und er drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Dann bin ich ihm doch nachgelaufen. Es war so eine innere Zerrissenheit. Ich konnte ja nur verlieren, entweder den Vater oder die Mutter."

Um diese Zeit fängt Stephan L. an, sich mit Süßigkeiten voll zu stopfen, sein gesamtes Taschengeld gibt er dafür aus. "Ich aß und aß und konnte nicht satt werden", sagt er.

Er wird sehr groß und sehr dick, und wenn einer "Fettklops" zu ihm sagt, schlägt er zu. Der Vater unternimmt, was in seiner Macht steht, um die Verhaltensstörungen des Kindes zu beheben.

Am Stuttgarter C.G. Jung-Institut, einer Klinik für analytische Psychologie, wird eine tiefenpsychologische Anamnese erhoben. Darin werden Stephan L. "Größenphantasien" attestiert, die in Verbindung mit Unsicherheitsgefühlen zu heftigen Aggressionen führen könnten.

Von einer "tief greifenden Störung" ist die Rede, die einer langen und intensiven Behandlung bedürfe. Vier Jahre lang, während seiner ganzen Grundschulzeit, ist Stephan in Behandlung bei einer Kindertherapeutin. Endlich werden seine Wutanfälle seltener.

Die Realschule schafft er problemlos, er engagiert sich mit großem Eifer bei der Wasserwacht und beim Jugendrotkreuz. Erstmals findet er Freunde, fühlt sich nicht mehr als Außenseiter. "Das hat mir Freude gemacht, Menschen zu helfen", sagt er.

Rettungsassistent wäre sein Traumberuf gewesen, aber davon rät man ihm ab, weil es nicht genug Arbeitsstellen gebe. Also wird Stephan L. Krankenpfleger. Die dreijährige Ausbildung am Klinikum in Ludwigsburg schließt er mit guten Ergebnissen ab. "Ein guter, problemloser Schüler", urteilt die Pflegedirektorin.

Im zweiten Ausbildungsjahr lernt er Juliane (Name geändert) kennen. Sie will Kinderkrankenschwester werden. In der Nacht vor dem 1. Mai 2001 hilft er ihr, ihr Motorrad in den Keller zu tragen - sie fürchtet, das Fahrzeug könne in der Freinacht beschädigt werden.

Als "extrem hilfsbereit" charakterisiert sie ihn später. Die gegenseitige Verliebtheit, erzählt Stephan L. dem Psychiater, habe sich entwickelt, als Juliane ihm Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend erzählt habe - belastende Erlebnisse, sexuellen Missbrauch, Vergewaltigungen, zuerst in der Familie, später durch Jugendbetreuer und Ärzte. Tatsachen oder Phantasie - man weiß es nicht.

Ganz blau im Gesicht

Stephan ist außerordentlich beeindruckt. Sie will keinen Sex - er akzeptiert das. Sie fällt gelegentlich in Ohnmacht, sie hat hysterische Anfälle.

Stephans Vater sieht die Beziehung äußerst kritisch. Juliane erinnert ihn an seine frühere Ehefrau, Stephans Mutter. Der gleiche Hang zur Hypochondrie, die gleiche Körperhaltung, der gleiche klagende Ton.

Stephan wehrt die Kritik ab. Er fühlt sich für Juliane verantwortlich, er fühlt sich berufen, ihr zu helfen, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Er klaut Infusionen und später Beruhigungsmittel, um ihre hysterischen Zustände zu behandeln.

Juliane will fort aus Ludwigsburg, sie will ins Allgäu. Also bewirbt sich Stephan L. nach Abschluss seiner Ausbildung an der Klinik in Sonthofen. Am 6. Januar 2003 tritt er seine Stelle als Krankenpfleger auf der Station eins der Inneren Abteilung an.

Schon vier Wochen später tötet er, der Anklage zufolge, zum ersten Mal einen Patienten, einen 81-jährigen Mann, der nach einem schweren Schlaganfall eingeliefert wurde.

Mit dem Sachverständigen Foerster hat Stephan L. in großer Breite und Ausführlichkeit über die Motivation für seine Taten gesprochen. Er sei geprägt gewesen von seinen Erlebnissen als Rettungssanitäter. Er habe in einem Altenheim in Ludwigsburg eine Patientin erlebt, die seit sieben Jahren im Wachkoma lag und über eine Sonde ernährt wurde.

In ihm sei das Gefühl entstanden, in solchen Fällen handeln zu müssen, um den unwürdigen Zustand, in dem solche Menschen lebten, zu beenden. Er habe es geradezu als moralische Verpflichtung, als eine Frage der Zivilcourage empfunden, diese Menschen zu "erlösen".

Immer wieder habe er den Gedanken gehabt, dass Gott sein Handeln nicht zulassen würde, wenn es falsch wäre.

Die Tötungen, die Stephan L. zur Last gelegt werden, erstrecken sich kontinuierlich über 18 Monate. Lange Zeit schöpfte niemand Verdacht.

Der Pfleger, der den Tod brachte

Die meisten der Patienten, die Stephan L. tötete, waren so schwer krank, dass ihr plötzlicher Tod niemanden überraschte.

Nicht die Tötungen, sondern der Diebstahl von Medikamenten führte die Polizei auf die Spur des Krankenpflegers. Als bei einer Wohnungsdurchsuchung leere Ampullen von Beruhigungsmitteln gefunden wurden, legte Stephan L. spontan ein weit reichendes Geständnis ab.

Wie viele Patienten er tatsächlich getötet habe, wisse er nicht mehr, sagt er heute. An die meisten Einzelfälle habe er keine, höchstens eine ganz vage Erinnerung.

"Nur weitere Qualen verursachen"

Das muss nicht unbedingt eine Schutzbehauptung sein. Auch Dr. Michael Baumgarten, der Oberarzt der Station eins in der Klinik Sonthofen, kann sich bei vielen Patienten, die Stephan L. getötet haben soll, nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Als Zeuge im Prozess gegen Stephan L. vermittelt Baumgarten den Eindruck eines gewissenhaften, nachdenklichen, abwägenden Arztes.

Er schildert, wie schwer ihm oft die Entscheidung falle, das Leben eines Patienten mit technischen Mitteln zu erhalten. Die Patientin Godafrieda H. zum Beispiel, 75 Jahre alt, Herzfunktionsstörung, schwere Atemnot, fortgeschrittene Demenz - "ein Zustand, in dem ein Mensch am natürlichen Ende seines Daseins angekommen ist und wo man ihm mit Methoden der technischen Medizin nur weitere Qualen verursacht", sagt Baumgarten.

Stephan L. soll die Patientin am 15. Juni 2003 kurz vor 23 Uhr getötet haben. Der Staatsanwalt sagt: Mord.

L. habe "selbstherrlich gehandelt, ohne die Möglichkeit der Besserung der Krankheit abzuwarten". Oder die Ordensschwester P., 70 Jahre alt, schwere Herzinsuffizienz: "Sie war wirklich sehr schwer krank", sagt der Zeuge Baumgarten.

"Blau im Gesicht durch die Atemnot, sehr hinfällig. Sie hat sich nur noch gemüht und geschleppt und sich gewünscht, dass sie einschlafen kann." Am 27. März 2004 soll Stephan L. ihr die tödlichen Medikamente verabreicht haben. Auch hier sagt die Staatsanwaltschaft: Mord, heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen.

Einer jener Fälle also, in denen das vom Angeklagten für sich in Anspruch genommene Mitleid "der Lage des Patienten vollkommen unangemessen" und "für den normalen Beobachter unverständlich und nicht nachvollziehbar" sei.

Vielleicht führt eine ziemlich gerade Linie von dem Zweijährigen, den seine Mutter für hirngeschädigt hielt und von einem Arzt zum anderen schleppte, über den zwischen Vater und Mutter zerrissenen, von Größenphantasien und Aggressionen geplagten Grundschüler, über den verliebten Mann, der Medikamente klaut, um seine hysterische Freundin zu therapieren, zu dem 25-Jährigen, der sich in einem nahezu religiösen Sendungsbewusstsein die Entscheidung über Leben oder Tod ihm anvertrauter Patienten anmaßt.

"Ich habe", sagt er rückblickend, "mein Empfinden über die Ausweglosigkeit des Zustandes an die Stelle einer von den Patienten zu treffenden Entscheidung gesetzt."

Hat er also aus Mitleid getötet? Beantworten könnte diese Frage nur, wer wirklich ganz genau wüsste, was für ein Gefühl das ist: Mitleid.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: