Süddeutsche Zeitung

Zwei Jahre nach dem Erdbeben:Haitis verzweifelter Kampf um Normalität

Trümmerberge und Zeltstädte prägen noch immer das Stadtbild von Port-au-Prince: Der Wiederaufbau in Haiti geht zwei Jahre nach dem verheerenden Beben noch immer schleppend voran. Mehr als eine halbe Million Menschen sind noch immer obdachlos, die medizinische Versorgung mangelhaft - und die Cholera wütet.

Normalität ist in Haiti zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben noch immer ein Fremdwort. Noch immer säumen Trümmer die Straßen, wütet die Cholera, lebt eine halbe Million Menschen in Notunterkünften. Der Wiederaufbau des armen, fast völlig zerstörten Landes im Westen der Karibikinsel Hispaniola ist mühsam und kommt nur äußerst langsam voran. Entsprechend nüchtern fällt die Bilanz internationaler Organisationen aus. "Wir erkennen die Realität der Fortschritte", sagt Nigel Fisher, Koordinator für die humanitäre Hilfe der UN (OCHA) vor Ort, "aber wir dürfen uns nicht von den enormen Aufgaben ablenken lassen, vor denen Haiti steht."

Die Unternehmerin Anne-Rose Schön lebt seit mehr als 30 Jahren in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. "Es ist einiges in Bewegung", sagt sie. "Aber man sieht noch nicht viel." Viele Millionen Dollar Hilfsgelder wurden ausgegeben, Schulen, Häuser und Krankenhäuser gebaut. Das Land war schon vor dem Erdbeben auf internationale Hilfe angewiesen und braucht diese Unterstützung jetzt mehr denn je: Auch zwei Jahre nach der Katastrophe sind enorme Anstrengungen im Wiederaufbau nötig", heißt es in einem aktuellen Bericht der Katastrophenhilfe.

"Ich habe keine Hoffnung auf einen Wandel", sagt Valérie Loiseau. Die 28-Jährige verlor während des Bebens am 12. Januar 2010 ihr gesamtes Hab und Gut. Sie lebt seither mit ihren Kindern und mehr als 2500 weiteren Menschen auf einem früheren Kinderspielplatz in einem Vorort der Hauptstadt. Solche Obdachlosen-Camps, die noch immer Hunderttausende Erdbebenopfer beherbergen, zu räumen und den Menschen Wohnraum zu schaffen, gehört zu den Prioritäten der Regierung von Präsident Michel Martelly.

Omari Jumbe, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration (IOM), warnte jedoch vor einem zu hastigen Wiederaufbau. Es dürfe nicht sein, dass durch einen voreiligen Bau von Häusern dieselben Bedingungen geschaffen würden, die vor zwei Jahren zum Tod so vieler Menschen geführt hätten, sagte er. Mehr als 220.000 Todesopfer forderte das verheerende Beben, Hunderttausende Häuser wurden zerstört, etwa eine Million Menschen verloren ihr Obdach.

Über den Wiederaufbau sprach Präsident Martelly in seiner ersten Rede vor dem Parlament. Die Kammer hatte zuvor mehrfach die Regierungsbildung und damit den Beginn eines geordneten Wiederaufbaus hinausgezögert. "Das Haiti des Elends, des Egoismus und der Bettelei muss verschwinden und Platz machen für ein vibrierendes, dynamisches und gerechtes Haiti", forderte Martelly, der als Unterhaltungsmusiker populär geworden war, bevor er im Mai 2011 sein Amt antrat. Damals erklärte er auf seiner Webseite, es gebe "keine Regierung, keinen Etat, keine Institutionen", mit denen er das Land regieren könne.

"Das muss sich ändern"

Martelly rief die Parlamentarier dazu auf, die rechtlichen Voraussetzungen für eine "sozioökonomische Revolution" zu schaffen, um vor allem auf dem Lande ein besseres und menschenwürdigeres Leben und die Bildung einer Mittelschicht zu ermöglichen. "Haiti, das war eine Anhäufung von internen Kämpfen, von Morden, Entführungen und der Blockade", sagte er. "Das muss sich ändern." Der Präsident will auch die dünne Schicht der Wohlhabenden in die Pflicht nehmen: Zwei Prozent der Haitianer kontrollierten 69 Prozent der Reichtümer des Landes, erklärte er im Kongress, ohne allerdings konkret eine Umverteilung zu fordern.

Derzeit steht der Regierung eine Milliarde Dollar für konkrete Projekte zur Verfügung. Dieses Geld soll in den kommenden Jahren die Bildung, den Umweltschutz und die Energieversorgung verbessern sowie den Rechtsstaat stärken und Arbeitsplätze schaffen. "Es ist eine Art Feuerprobe für Martelly und seine Regierung, die nun 100 Tage im Amt ist", sagt ein europäischer Diplomat. "Wenn dann Erfolge sichtbar werden, werden die Menschen ruhig bleiben."

Die Herausforderung für Haitis labile Institutionen sind gewaltig: Zum zweiten Jahrestag des Bebens kritisierte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen den schlechten Zustand des Gesundheitssystems. In Port-au-Prince stünden den drei Millionen Einwohnern lediglich vier Kliniken zur Verfügung, sagt Haiti-Koordinator Kenneth Lavelle, obwohl es ein Krankenhaus auf 150.000 Menschen geben müsste. Zudem sei in ländlichen Gegenden der Zugang zu medizinischer Versorgung schwer.

Hunderttausende Cholerakranke

Ablesen lässt sich der katastrophale Stand der Versorgung am Kampf gegen die Cholera: Nach Angaben der Regierung vom Dezember sind mehr als eine halbe Million Menschen mit der Durchfallerkrankung infiziert, täglich kämen 200 Neuinfektionen hinzu, sagte der Vizechef der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO/OPS), Jon Kim Andrus. Es handele sich um eine der größten Cholera-Epidemien in einem Land in der jüngeren Geschichte.

Eingeschleppt wurde die Seuche ausgerechnet von denen, die Hilfe bringen sollten: Experten zufolge sind aus Nepal stammende Blauhelm-Soldaten der UN für den Ausbruch der Cholera-Epidemie verantwortlich.

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Süddeutsche.de/Franz Smets, dpa/AFP/leja/okl
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