Zwangsadoptionen in Spanien:Kindesraub im Namen der Religion

María Gómez Valbuena

Die Nonne María Gómez Valbuena soll Frauen Neugeborene weggenommen haben, um sie auf dem Adoptionsmarkt anzubieten. Nun steht sie in Madrid vor Gericht.

(Foto: AFP)

Jahrzehntelang nahmen in Spanien Ordensschwestern Müttern ihre Babys weg und gaben sie Adoptiveltern. Nun beginnt die Aufarbeitung - mit kleinen Erfolgen: So hat ein Mann nach 47 Jahren seine leibliche Mutter kennengelernt.

Von Thomas Urban, Madrid

Der Fall Quiqert Olivert ist der letzte, dafür aber der spektakulärste von mittlerweile einem Dutzend: Kinder finden nach Jahrzehnten ihre Mütter wieder. In seinem Fall waren es 47 Jahre, mehr als bei allen anderen, nach denen er kürzlich seine 70 Jahre alte Mutter traf. Olivert gehörte zu den Säuglingen, die wenige Tage nach ihrer Geburt von katholischen Ordensschwestern ihren Müttern weggenommen und an Adoptiveltern weitergegeben worden waren.

Die ersten Fälle sind für den Spanischen Bürgerkrieg dokumentiert, die letzten Anfang der Neunzigerjahre. Der Verein "SOS Bebés robados" (Geraubte Babys), gegründet von mehreren Dutzend Personen, die glauben, ebenfalls Opfer der Zwangsadoptionen geworden zu sein, schätzt ihre Zahl gar auf bis zu 300.000. Doch halten Experten diese Größenordnung für übertrieben.

Kein anderes Thema hat die spanische Gesellschaft 2012 so aufgewühlt, nicht einmal die Bankenkrise. Denn es betrifft verdrängte Kapitel aus der Geschichte, die bis heute das Land in zwei sich offenbar unversöhnlich gegenüberstehende politische Lager spalten. Der organisierte Kindesraub hatte nämlich offenkundig weltanschauliche Gründe: Katholische Nonnen und Priester wollten verhindern, dass die Kinder "in Sünde" aufwuchsen. Sünder, das waren unverheiratete Mütter, aber auch Kommunisten und Sozialisten. Das Regime des Diktators Francisco Franco, der nach der Niederlage der Republikaner im Bürgerkrieg bis zu seinem Tod 1975 das Land mit eiserner Faust regierte, deckte diese Praxis.

Säuglinge für tot erklärt

In den vergangenen Monaten beschäftigte das Verfahren gegen die Ordensschwester Maria Gómez Valbuena die Medien. Die heute 87-Jährige arbeitete mehrere Jahrzehnte lang auf der Sozialstation des städtischen Krankenhauses Santa Cristina in Madrid. Ein Fall hat das Verfahren gegen sie ins Rollen gebracht: Die heute 53 Jahre alte Maria Luisa Torres fand nach 30 Jahren dank der Recherchen einer Journalistin ihre Tochter Pilar wieder, die ihr wenige Tage nach der Geburt weggenommen worden war.

In dem Krankenhaus fanden sich aber noch Akten, die gemeinsam mit den Aussagen der Mutter die Rekonstruktion des Falles erlaubten. Schwester Maria hatte der jungen Frau, die unverheiratet war, nach der Geburt der Tochter erklärt, das Kind sei gleich nach der Geburt gestorben. In Wirklichkeit hat sie, offenbar mit Billigung des Stationsarztes, den Säugling an ein katholisches Ehepaar verkauft, das selbst keine Kinder bekommen konnte. Die "Vermittlungsgebühr" von 100.000 Peseten, über deren Verbleib bislang Unklarheit herrscht, entsprach damals dem Gegenwert eines Kleinwagens.

Die ersten Fälle dieser Art sind nachgewiesen für das erste Bürgerkriegsjahr 1936, als Truppen unter dem Kommando des aufständischen Generals Franco ihren Kampf gegen die linksorientierten Republikaner begannen, die die letzten Wahlen gewonnen hatten und die Regierung stellten. In den Gebieten, die unter die Kontrolle der Truppen Francos kamen, wurden nicht nur vielen "gefallenen Mädchen", wie die Unverheirateten genannt wurden, sondern auch vielen Ehefrauen von "Roten" die Säuglinge weggenommen, jedes Mal mit der Lüge verbunden, diese seien gleich nach der Geburt gestorben.

2000 Anzeigen von Müttern

Historiker sehen diesen groß angelegten Kindesraub, in den nach bisherigem Erkenntnistand auch Priester verwickelt waren, im Zusammenhang mit der damaligen Frontstellung: Ein Teil der linksradikalen Gruppierungen führte einen erbarmungslosen Kirchenkampf, zu dem nicht nur die Zerstörung von Gotteshäusern, sondern auch die Ermordung von Nonnen und Geistlichen gehörte.

Die linksliberale Tageszeitung El Pais, die sich bei den Recherchen zur ungeklärten Herkunftsgeschichte vieler Adoptivkinder sehr engagiert hat, beschreibt ein ideologisches Konzept: Den Gegnern Francos, die auch oft Gegner der Kirche waren, sollte der Nachwuchs genommen werden. El Pais hatte 1985 zum ersten Mal über Mütter berichtet, die vom Raub ihrer Kinder in der Franco-Zeit sprachen, doch waren die Recherchen damals ergebnislos verlaufen. Die Behörden hatten keine Untersuchungen eingeleitet, weil sie keine Belege dafür sahen und auch keine Zeugenaussagen vorlagen.

Mittlerweile aber sind bei den Behörden etwa 2000 Anzeigen eingegangen. Die Mütter, die glauben, auch ihnen seien ihre Kinder weggenommen worden, haben ähnliche Erfahrungen gemacht: Die sie betreuenden Ordensschwestern berichteten ihnen vom Tod des Säuglings. Eine Mutter schilderte, wie die Schwester ihr einen tiefgefrorenen Säugling gezeigt habe. Die Kinder seien in kleinen weißen Särgen beigesetzt worden. Ein Fall machte nun Schlagzeilen: Die Mutter hatte nach Jahrzehnten eine Exhumierung gerichtlich erstritten; bei der Öffnung des Sarges stellte sich heraus, dass dieser leer war.

"Ich habe nach den Gesetzen der Religion gehandelt"

Die Adoptiveltern erfuhren nichts von der Vorgeschichte. Ihnen wurde meist mitgeteilt, die Mutter habe das Kind noch in der Klinik im Stich gelassen. Manchmal hieß es auch, die Mutter sei eine Prostituierte gewesen. Schwester Maria werden mindestens vier Fälle zugeschrieben, sie selbst schweigt dazu. In einem offenen Brief, den offenbar ihre Anwälte für sie verfasst haben, beklagt sie sich über die Jagd auf sie. Sie habe sich nichts zuschulden kommen lassen: "Ich habe nach den Gesetzen der Religion gehandelt."

Die spanische Öffentlichkeit hat die Information schockiert, dass die jüngsten Fälle von Säuglingsraub offenbar erst Anfang der Neunzigerjahre stattgefunden haben, also anderthalb Jahrzehnte nach der Umgestaltung des Landes zur Demokratie. Dahinter werden auch Klinikärzte vermutet, die auf dem grauen Markt für Adoptivkinder ein gutes Geschäft gemacht hätten. Mehrere Dutzend Ärzte wurden bislang dazu im ganzen Land befragt, ein Verfahren wurde aber noch nicht eröffnet.

Auch hat die systematische Auswertung von Krankenhausakten begonnen. Doch die alten Archivbestände sind meist längst in den Reißwolf gegangen. Überdies wurden offenbar oft Dokumente gefälscht. Im Falle der Schwester Maria sieht dies die Staatsanwaltschaft als erwiesen an, Maria ist auch wegen Urkundenfälschung angeklagt.

DNA-Datenbank soll Aufklärung ermöglichen

Allerdings wirft der Verein "SOS Bebés robados" den Behörden vor, an einer Aufklärung der Hintergründe nicht sonderlich interessiert zu sein. Das Verfahren gegen die Nonne, die dem Orden der Barmherzigen Schwestern angehört, zieht sich hin. Offenbar solle es nicht zu Ende gebracht werden. Es drohe seine Einstellung wegen der Prozessunfähigkeit der Angeklagten. Ihre Verteidiger aber verweisen auf ihr hohes Alter, sie sei nur wenig belastbar. Vergeblich hatten sie zuvor auf die Verjährung verwiesen, das Gericht wies ihren Antrag als unbegründet zurück.

Die konservative Regierung in Madrid, die ansonsten nicht an Bürgerkrieg und Franco-Zeit rühren möchte, hat die Brisanz des Themas erkannt. Sie hat die Weichen für die Einrichtung einer DNA-Datenbank gestellt, die Erbgutinformationen sowohl Müttern zur Verfügung stellt, die sich um ihre Kinder gebracht glauben, als auch Adoptivkindern, die ihre Eltern suchen.

Im Falle Quiqert Olivert brachte ein DNA-Test die Gewissheit: Er fand nicht nur seine Mutter, sondern auch eine Schwester, die fünf Jahre nach ihm geboren worden war. Das Schicksal hatte sie weit auseinandergerissen: Er wuchs im andalusischen Huelva in der Südwestecke des Landes auf, seine Angehörigen leben in Bilbao ganz im Norden.

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