Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Alice Herz-Sommer:"Rummeckern bringt doch nichts"

Ihre Markenzeichen waren ihr Lächeln und Converse-Turnschuhe: Die Pianistin und Holocaust-Überlebende Alice Herz-Sommer ist tot. Bekannt war sie für ihren unerschütterlichen Optimismus, trotz ihrer Zeit im KZ.

Von Thorsten Schmitz

Ihre Tür stand immer offen, nie hat sie gesagt: "Es passt mir gerade nicht." Jeder durfte vorbeischauen in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung im vornehmen Londoner Viertel Belsize Park - sehr ungewöhnlich für eine 110-jährige Frau. Am Sonntag ist Alice Herz-Sommer gestorben. Ihr Enkelsohn Ariel sagt: "Sie war wie eine Heilige für viele Menschen. Alle wollten etwas von ihrem Optimismus abhaben." Alice Herz-Sommer gilt als älteste bekannte Holocaust-Überlebende.

Sie genoss es, neue Menschen kennenzulernen, nur zwischen 10 und 12 Uhr vormittags mochte sie nicht gestört werden. Dann saß sie an ihrem Steinway-Klavier, spielte Bach, Beethoven, Chopin, auswendig, denn Noten konnte sie schon lange nicht mehr lesen. In ihrer Nachbarschaft kannte sie jeder, sie war die Seele von Belsize Park. Wenn sie mit einem ihrer beiden Enkelsöhne Sonnenstrahlen auf einer Parkbank genoss, blieben die Menschen für ein Schwätzchen stehen. Spielte sie mal nicht Klavier, klingelten ihre Nachbarn sofort und erkundigten sich, ob auch alles in Ordnung sei.

Ihre Markenzeichen waren ein stetes Lächeln und Converse-Turnschuhe, um ja nicht auszurutschen. Tagsüber telefonierte sie und spielte Klavier, zum Einschlafen hörte sie sich Cello-Konzerte ihres Sohnes Raphael an, der viel zu früh 2001 an einem geplatzten Aneurysma nach einem Beethoven-Konzert in Israel gestorben war. Ihre weltweite Popularität verdankte Alice Herz-Sommer zwei extremen Gegensätzen: Sie war als Jüdin Opfer des Holocaust gewesen, hatte das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt - und war dennoch ein fröhlicher Mensch geblieben. Wer sie nach dem Ursprung ihrer guten Laune fragte, dem erteilte sie diese schlichte Lektion: "Spiele Klavier!" Das Klavier war ihr Seelentrost und Seelenkost. "Ich bin zwar jüdisch", sagte sie, "aber Beethoven ist meine Religion."

Sie sorgte für eine "glückliche Kindheit" in Theresienstadt

Alice Herz-Sommer vermochte auch zu zaubern. Ihrem Sohn Raphael gaukelte sie in Theresienstadt eine heilere Welt vor. Wenn er über Hunger klagte, spielte sie vor, die wässrige Suppe sei in Wahrheit ein Königsmahl. Erschrak Raphael über die dürren KZ-Insassen, nahm sie ihn mit zum Klavierspielen ins KZ-Orchester. In seinen Memoiren schrieb Raphael Sommer einmal den unfassbaren Satz: "Ich hatte in Theresienstadt eine glückliche Kindheit."

Alice Herz-Sommer stammte aus einer musikalischen Familie, die Eltern waren mit Gustav Mahler und Franz Kafka befreundet. Mit fünf Jahren hatte sie begonnen, Klavier zu spielen. Hat man sie gefragt, wer ihr Lieblingsmusiker ist, sagte sie: "Daniel Barenboim!" Ihre Eltern wurden in Auschwitz ermordet, ihr Ehemann kam im KZ Dachau um, ihr Sohn starb vor ihr - und trotzdem hatte sie Freude am Leben. Sie war auch eine Meisterin in Selbst-Suggestion, schlechte Laune verbat sie sich: "Rummeckern bringt doch nichts, es fühlen sich dann nur alle schlecht." Woher ihre Lust am Leben kam? Ihre Erklärung dafür klang schlicht: "Mein Optimismus hat mir durch die dunkelste Zeit in meinem Leben geholfen. Ich interessiere mich für die schönen Dinge im Leben."

Gut möglich, dass Alice Herz-Sommer am kommenden Sonntag noch einmal für Schlagzeilen sorgen wird. Der Film über ihr Leben namens "The Lady in Number 6-Music Saved my Life" gilt als aussichtsreicher Kandidat für den Kurzdokumentarfilm-Oscar.

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SZ vom 25.02.2014/ebri/odg
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