Zum Tod des Cap-Anamur-Gründers:Rupert Neudeck hat gezeigt, was ein Einzelner vermag

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Theologe, Journalist, Ex-Jesuit - und Schutzengel für Menschen in Not: Rupert Neudeck auf einem Archivbild von 2009. (Foto: picture-alliance/ dpa)

Radikal hilfsbereit: Äußerlich eine Mischung aus Rübezahl, Marathonläufer und Gottvater, war der Cap-Anamur-Gründer für Flüchtlinge nicht weniger als ein Schutzengel. In Deutschland verhalf Neudeck dem Wort Bürgerinitiative zu seinem guten Namen.

Nachruf von Heribert Prantl

Es begann Ende Januar 1945 im ostpreußischen Hafen: Rupert Neudeck war knapp sechs Jahre alt. Der Onkel hatte noch Fahrscheine bekommen für die Wilhelm Gustloff, für die letzte Überfahrt über die Ostsee auf der Flucht vor der Roten Armee - Fahrscheine für die Großmutter, die Mutter und die Tante, für Rupert und seine drei Brüder. Die Familie kam zu spät, das Schiff war schon ausgelaufen. Einige Stunden nach der Ausfahrt aus dem Hafen wurde die Gustloff von russischen Torpedos getroffen; die meisten der zehntausend Flüchtlinge ertranken. Sein Leben lang hat sich Neudeck an die Wärme beim Übernachten im Seemannsheim Danzig erinnert - und an das Gefühl, behütet zu sein.

Es war dies sein Urerlebnis; es hat ihn und sein Leben geprägt: Der Mann, der Philosophie, Germanistik, Soziologie und katholische Theologie studierte, der bei den Jesuiten ein- und wieder austrat, der mit einer Arbeit über "Politische Ethik bei Sartre und Camus" promovierte, wurde nicht nur Journalist bei der katholischen Funkkorrespondenz und dann Redakteur beim Deutschlandfunk, er wurde zum Schutzengel der Flüchtlinge.

Engel sehen anders aus

Gewiss: Die Engel auf den Bildern schauen anders aus; sie haben keinen mächtigen Bart wie Neudeck, sondern Flügel und einen frommen Blick. Neudeck war keine engelhafte Erscheinung, er war zäh und ausgemergelt und ledern; er sah aus wie eine Mischung aus Rübezahl, Marathonläufer, dem heiligen Christophorus und Gottvater.

Engel brauchen angeblich kein Essen, und das hatte Neudeck wieder mit diesen Wesen gemein: Er war ein unglaublich bedürfnisloser Mensch, er lebte, wie es schien, von fast nichts - aber für andere. 1979, da war Neudeck 40, begann diese Berufung. Nach dem Ende des Vietnamkriegs und dem Sieg des kommunistischen Nordens flohen unzählige Südvietnamesen vor der grausamen Verfolgung aufs Meer, die überladenen Boote kenterten, wurden von Piraten angegriffen. Neudeck gründete, unterstützt vom Schriftsteller Heinrich Böll, das Komitee "Ein Schiff für Vietnam", aus dem die Hilfsorganisation Cap Anamur wurde. Mit einem zum Hospitalschiff umgebauten Frachter nahm er insgesamt mehr als zehntausend "Boat People" auf und brachte sie nach Deutschland. "Nicht mehr nur zuschauen", sagte er.

Italienische Operation "Mare Nostrum"
:Kriegsschiffe zu Rettungsbooten

Schwerter zu Pflugscharen: Diese biblische Verheißung geht im Mittelmeer gerade in Erfüllung. Italiens Marine hat mit Kriegsschiffen bereits 80 000 Flüchtlinge gerettet. Doch die Aktion "Mare Nostrum" steht vor dem Aus - dabei hätte sie den Friedensnobelpreis verdient.

Gastbeitrag von Rupert Neudeck

Werben für die Flüchtlingsaufnahme

Er konnte, er wollte nicht ertragen, nur zuschauen zu können. Der Katholik Neudeck warb wie ein Missionar bei der Regierung Kohl um die Aufnahme der Flüchtlinge. Er schaffte es, Leute wie Wolfgang Schäuble zu überzeugen. Deutschland integrierte die Boat People von der Cap Anamur als Kontingentflüchtlinge.

Neudeck musste sich gegen die Kritik wehren, er animiere Flüchtlinge zur Flucht. Aber wenn einer sich gegen solche Redereien wehren konnte, dann er. Er konnte reden, er konnte überzeugen, er konnte leidenschaftlich sein. Er war, so sagt es der CDU-Politiker Heiner Geißler, "eine Idealkombination aus Idealismus und praktischer Intelligenz". Und Norbert Blüm rühmt: "Seine Kompetenz war Herzlichkeit und Menschlichkeit".

Wenn eine Geschichte des Wohnzimmers als eines deutschen Erinnerungsorts geschrieben werden würde, müsste das Wohnzimmer von Christel und Rupert Neudeck in Troisdorf bei Bonn besonders erwähnt werden: es ist das wohl ungewöhnlichste Wohnzimmer der Republik - nicht einer spektakulären Möblierung wegen, sondern wegen der spektakulären Aktionen, die dort geboren und gelenkt wurden. Dies Wohnzimmer war und ist Zentrale für Rettungsaktionen zu Wasser und zu Lande in aller Welt.

Als vor ein paar Wochen Christel und Rupert Neudeck in Stuttgart mit dem Erich-Fromm-Preis ausgezeichnet wurden, zählte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seiner Laudatio die humanitären Aktionen auf, die die Neudecks auf die Beine gestellt haben: Es sind bis zum heutigen Tag weit mehr als dreißig - in Somalia, Uganda, Äthiopien, Tschad, Mosambik, Eritrea, im Irak und in Angola, Bosnien, Ruanda, Tschetschenien, Libyen, Syrien. Es wurden Minen geräumt und Krankenhäuser errichtet, Gesundheits- und Nahrungsstationen, Schulen und Straßen gebaut, Brunnen, Solaranlagen, Ambulanzen und Gotteshäuser. Eine kleine, familiäre Hilfsorganisation hat gerackert und gerettet, geworben, gepredigt, geschafft.

Mehr als 10 000 vietnamesische Flüchtlinge aus Seenot gerettet: Rupert Neudeck auf der Cap Anamur. (Foto: Schiller/dpa)

Radikaler Humanist, pragmatischer Pazifist

Wenn das Wort Bürgerinitiative in Deutschland guten Klang hat, dann liegt das nicht zuletzt an Rupert Neudeck und seinen Initiativen. Er hat, zusammen mit seiner Frau, gezeigt, was ein Einzelner vermag. Er war ein wunderbarer Vorarbeiter der Solidarität und des Gemeinsinns; er war ein barmherziger Samariter der Moderne, ein Christ, ein radikaler Humanist. Und er war Pazifist, der aber - weil er andere Möglichkeiten nicht sah - die Bewaffnung der kurdisch-irakischen Peschmerga im Nordirak gegen den IS unterstützte, wofür er auch von seinen Freunden Kritik erntete. Er war pragmatischer Pazifist, einer, der beim Außenminister dafür vorstellig wurde, Minenräumpanzer zu erhalten. Zuletzt, bei der Dankesrede für den Erich-Fromm-Preis, hat er für "Differenzierungen im Begriff Pazifismus" geworben.

Cap Anamur: "Die Arbeit dafür war für mich der schönste Ausdruck der Sehnsucht, nicht mehr feige zu sein" - so sagte es Neudeck mit Blick auf die Feigheit so viele Deutscher in und nach der Nazi-Zeit. Und feige war er bei Gott nicht; er wagte sich in die Kriegsgebiete, dorthin auch, wo sich in Afghanistan kein deutscher Soldat wagte; sein Gottvertrauen und sein humanitärer Wagemut waren gleichermaßen unerschütterlich. Wenn vor ihm ein Fahrzeug auf einer Tellermine explodierte, war ihm das Ansporn, die Aktivitäten gegen das Verbot von Landminen noch zu verdoppeln.

Grünhelme: Christen, Muslime, Menschen guten Willens

Als die Arbeit mit der Cap Anamur zu Ende war, gründete er 2003 zusammen mit Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, das internationale Friedenskorps "Grünhelme". Von diesem Hilfs- und Wiederaufbauprojekt sagte Klaus Töpfer, damals Leiter des UN-Umweltprogramms: "Je mehr Grünhelme wir in die Welt entsenden, desto weniger Blauhelme brauchen wir." Blauhelme sind die militärischen Einheiten der Vereinten Nationen.

Neudeck selbst beschrieb seine Grünhelm-Idee so: "Christen, Muslime und andere Menschen guten Willens bauen gemeinsam auf, was andere widerrechtlich zerschlagen haben."

Stolz auf Papst Franziskus

In seinen letzten Texten (etliche wurden als "Außenansicht" in der SZ abgedruckt) warb Neudeck mit Verve für eine humane Flüchtlingspolitik; er verzweifelte am deutschen Bürokratismus, am Durcheinander der Ämter und Zuständigkeiten. Am Telefon erinnerte er jüngst an einen Satz von Kurt Tucholsky: "Wenn zwei Deutsche im Hof Holz zerspalten, stehn drei andere herum, die das verwalten." Neudeck stand nie herum, er hat organisiert und angepackt. Er war stolz auf seinen Papst Franziskus, dessen Besuch auf Lampedusa er einen Glücksfall nannte.

Wenn es in diesen Zeiten so etwas wie einen Heiligen gibt - dann war er einer. Rupert Neudeck ist Dienstagmorgen 77-jährig nach einer Herzoperation gestorben.

© SZ vom 01.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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