Zugunglück in Indien:Signalfehler ließ Zug entgleisen, 275 Tote

Zugunglück in Indien: Wo soll man anfangen mit dem Retten, mit dem Bergen? Die Unfallstelle südlich von Kolkata, am Samstag.

Wo soll man anfangen mit dem Retten, mit dem Bergen? Die Unfallstelle südlich von Kolkata, am Samstag.

(Foto: Odisha Fire Services/IMAGO/UPI Photo)

An der Ostküste Indien kollidieren drei Züge, Hunderte Menschen werden verletzt. Premierminister Modi kündigt an, die Schuldigen schwer zu bestrafen. Wurde das Bahnnetz zu schnell modernisiert?

Von David Pfeifer, Mumbai

Wer jemals in einem vollbesetzten indischen Zug gesessen hat, hat eine Vorstellung davon, was passiert, wenn zwei davon ineinander rasen. So geschah es am Freitagabend nahe der kleinen Stadt Balasore, in Odisha, an der indischen Ostküste. Ein dritter, stehender Zug wurde ebenfalls erfasst, auf einem Seitengleis. Mindestens 275 Tote wurden bislang aus den Wracks gezogen, mindestens 900 sind verletzt. Und die Suche geht weiter. Nach Toten, nach Überlebenden und nach den Ursachen.

Der "Howrah Superfast Express" kam aus Bengaluru und kollidierte mit dem "Coromandel Express", der von Kalkutta nach Chennai fährt. Die Waggons wurden von der Wucht des Zusammenstoßes so ineinander geschoben und verkeilt, dass man auf den ersten Blick nicht mehr erkennen kann, welcher Teil zu welchem Zug gehört. Die Bilder aus der Luft ähneln denen von Eschede, dem größten Zugunglück in Deutschland. In Indien ist es der schlimmste Unfall dieser Art seit 20 Jahren. Die staatliche Bahn ist eine günstige Alternative für diejenigen, die sich Flüge zwischen den Städten nicht leisten können, von Wochenendpendlern bis zu Tagelöhnern. Nur die Allerärmsten benutzen den Bus.

Zugunglück in Indien: Rettungskräfte bergen ein Opfer aus einem der Passagierzüge.

Rettungskräfte bergen ein Opfer aus einem der Passagierzüge.

(Foto: Rafiq Maqbool/AP)

Die Szenen, die sich an der Unglückstelle abspielen, haben etwas von Apokalypse. Während die Rettungskräfte seit Freitagabend um 19 Uhr aus allen Teilen des Bundestaats zusammenströmen, um Menschen aus dem stählernen Wrack zu ziehen, haben die Krankenhäuser in der Umgebung alle Betten vorbereitet. Kräne heben die Zugteile, die sich ineinander verkeilt haben, aus dem Rettungsgebiet, damit nach weiteren Menschen gesucht werden kann. Mehr als 200 Krankenwagen fahren die Unfallstelle nonstop an, auch Privatautos und sogar Traktoren bringen die Verletzten in die örtlichen Krankenhäuser in der Umgebung. Tausende Rettungskräfte sind im Einsatz. Rettungshunde und Metallscheren werden eingesetzt, um die in den zerstörten Waggons Eingeschlossenen zu erreichen. Auf "NDTV", einem der größten Nachrichtensender des Landes, sieht man in Dauerschleife Verletzte mit blutigen Kopfverbänden, die nach vermissten Verwandten suchen. Schuhe, Spielzeug und aufgeschlagene Koffer liegen verstreut herum.

Die Katastrophe entwickelt sich zu einem nationalen Unglück

Der Coromandel Express, der nach bisherigen Kenntnissen mit etwa 100 Stundenkilometern unterwegs war, wechselte kurz vor dem Aufprall die Schiene und prallte auf den Container-Zug auf dem Nebengleis. Er schraubte sich in die Höhe, drehte sich um die eigene Achse und schlug dann seitwärts wieder auf. Ersten Erkenntnissen zufolge war die Ursache ein Fehler beim elektrischen Signal, wie der indische Bahnminister Ashwini Vaishnaw der indischen Nachrichtenagentur ANI sagte. Anschließend raste der Howrah Superfast Express in den hinteren Teil des entgleisten Zugs und sorgte für einen zweiten, heftigen Aufprall. Zehn der 23 Waggons des Coromandel Express wurden schwer beschädigt und zwei Waggons des Howrah Superfast Express.

Ein Überlebender, der neben den Wracks saß, beschrieb im Fernsehen, wie er von dem Aufprall durch den Waggon geschleudert wurde: "Ich wurde aus dem Schlaf gerissen, und zehn bis 15 Menschen fielen auf mich." Er saß auf dem Boden, im Dunkeln, nur wenige Meter von der Stelle des Aufpralls entfernt. "Ich verletzte mich an der Hand und am Hals. Ich sah, dass jemand seine Hand verloren hatte, jemand hatte sein Bein verloren." Gobinda Mondal, ein Arbeiter aus Chennai, saß im ersten Waggon des Coromandel Express: "Es gab einen plötzlichen Aufprall, und der Waggon, in dem ich saß, entgleiste bei sehr hoher Geschwindigkeit." Er beschreibt, wie er sich durch ein zerbrochenes Wagenfenster zwängte, um zu entkommen. "Ich konnte sehen, wie einige verletzte Personen im Waggon um Hilfe baten. Einer von ihnen klagte über Schmerzen in der Brust".

Seit Freitag stehen Hunderte Menschen vor einem staatlichen Krankenhaus in der benachbarten Kleinstadt Soro Schlange, um Blut zu spenden. Naveen Patnaik, Ministerpräsident von Odisha, erklärte am Samstag am Unglücksort, die Priorität liege darin, "die Lebenden in die Krankenhäuser zu bringen. Das ist unser erstes Anliegen - sich um die Lebenden zu kümmern". Neben den Verletzten sind auch etwa 1200 Menschen gestrandet, der Zugverkehr auf der gesamten Strecke wurde eingestellt. Mehr als 13 Millionen Menschen fahren in Indien täglich mit etwa 14 000 Zügen durch das riesige Land und legen dabei 64 000 Kilometer zurück.

Das 170 Jahre alte, staatseigene Schienensystem, das als Lebensader des mit 1,4 Milliarden Einwohnern bevölkerungsreichsten Landes der Welt gilt, wurde im Zuge der von Premierminister Narendra Modi vorangetriebenen Verbesserung der Infrastruktur und der Konnektivität in der schnell wachsenden Wirtschaft ausgebaut und modernisiert. In diesem Jahr hat die Regierung etwa 2,4 Billionen Rupien (etwa 30 Milliarden Euro) für neue Züge und moderne Bahnhöfe bereitgestellt. Doch der Unfall zeigt, dass die Sicherheit vielleicht zu kurz gekommen ist.

"Die Sicherheitsbilanz hat sich im Laufe der Jahre verbessert, aber es gibt noch viel zu tun", sagt Prakash Kumar Sen, Leiter der Abteilung für Maschinenbau am "Kirodimal Institute of Technology" in Zentralindien der Agentur Reuters. "Menschliches Versagen oder mangelhafte Gleiswartung sind in der Regel Schuld an solchen Unfällen." Die staatseigene Eisenbahn habe immer mehr Züge eingeführt, um die steigende Nachfrage zu bewältigen, aber die Arbeitskräfte, die sie instand halten sollen, konnten nicht Schritt halten.

Eisenbahnminister Ashwini Vaishnaw, der bereits am Freitag zur Unglücksstelle eilte, kündigte eine Entschädigung von einer Million indischer Rupien, etwa 12 000 Euro, für die Familien der Getöteten an. 2 400 Euro für diejenigen, die "schwere Verletzungen" erlitten hätten, und 600 Dollar für Menschen mit "leichten Verletzungen". Auch Premierminister Narendra Modi reiste am Samstag an und versprach, die Schuldigen schwer zu bestrafen. Die Katastrophe entwickelt sich zu einem nationalen Unglück.

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