Zugunglück in Sachsen-Anhalt:"Wie ein Feuerball"

Nach dem fatalen Zusammenprall zweier Züge in Sachsen-Anhalt stellt sich heraus, dass es bereits 2009 auf derselben Strecke zu einer Beinahe-Katastrophe kam. Unklar ist, ob das richtige Signal gegeben wurde.

Ch. Kohl, Hordorf

Es ist kalt und neblig in der Magdeburger Börde. Büsche und Bäume sind von Raureif überzogen. Am Bahnhof von Hordorf blättert der Lack von den Fenstern, dahinter liegt ein Trümmerfeld: Ein umgekippter Regionalbahnwaggon, der längsseitig wie eine Konserve aufgeschlitzt ist; aus dem zerfetzten Bug des Zuges ragt ein Schild empor: Georg Friedrich Händel, der Name des Unglückszuges. Auf den Gleisen daneben steht ein Güterzug mit rostbraunen Waggons, scheinbar unversehrt. Einzig der große blaue Kasten, der zwischen beiden Bahnen im Schlamm steckt, deutet darauf hin, dass auch der Güterzug in das Unglück verwickelt gewesen sein muss: Der blaue Kasten, bei dem es sich um einen Motor des Güterzuges handelt, ist völlig verbeult.

Zugunglueck in Sachsen-Anhalt

Einsatzkräfte stehen in Hordorf bei Oschersleben nach dem Zusammenstoß zweier Züge an der Unfallstelle - zehn Menschen kamen dabei ums Leben.

(Foto: dapd)

Am Samstagabend gegen 22.30 Uhr waren die beiden Züge mit voller Fahrt aufeinander gestoßen. Mindestens zehn Menschen kamen dabei ums Leben, 23 wurden teils schwer verletzt, einige schwebten laut Polizei am Sonntagabend noch in Lebensgefahr. Es ist eines der schlimmsten Bahnunglücke der vergangenen Jahre. Am Sonntag durchkämmen Feuerwehrleute, Helfer des Technischen Hilfswerkes und Polizisten das Gelände: Noch wird nach möglichen Opfern gesucht - und nach Spuren, die auf die Unglücksursache deuten. Unter den Trümmern fällt ein Stück weißer Innenverkleidung des Zuges auf, in dessen Einbuchtungen rote Pfützen aus Blut stehen, auch Kabelstränge, Eisenstangen und zerrissene Polstersitze sind im Morast erkennbar, dazwischen ein zerdrücktes Brötchen und eine Packung mit Windbeuteln - offenbar hatte ein Fahrgast noch Lebensmittel eingekauft, bevor er am Samstagabend in den Unglückszug von Magdeburg nach Halberstadt stieg.

Pünktlich um 21.37 Uhr war der Triebwagen mit zwei Waggons in Magdeburg losgefahren. Unter den etwa 50 Fahrgästen waren Arbeitnehmer, die von der Spätschicht kamen, junge Leute, die vielleicht in Magdeburg im Kino oder einkaufen waren oder auch Jugendliche, die in die Diskothek nach Halberstadt wollten. Kaum einer von ihnen hatte offenbar seine Papiere dabei, weshalb sich die Polizei am Sonntag schwer damit tut, die Toten zu identifizieren. Nur dass der Lokführer und die Schaffnerin unter den Toten sind, war schon in der Nacht zweifelsfrei klar. "Ich hab' sie gesehen, wie sie da lag", sagt Dirk Sporleder, der die Kollegin kannte, er selbst arbeitet als Lokführer: Früher waren sie alle gemeinsam bei der DDR-Bahn beschäftigt gewesen, seit der Privatisierung hätten sich die Kollegen aber auf verschiedene Firmen verteilt. Sporleder, 49, hatte frei an diesem Abend. So saß er vor dem Fernseher, als eine riesige Stichflamme den Nebel durchbrach. "Wie ein Feuerball sah das aus", sagt Sporleder, vermutlich sei nach dem Zusammenstoß der Dieseltank der Regionalbahn explodiert.

"Hoffentlich keine Toten"

Zu diesem Zeitpunkt war der Lokführer des Doppeltriebwagens, der zum Harz-Elbe-Express gehörte, vermutlich schon tot. "Er saß noch in seinem Fahrerstuhl", berichtet ein anderer Augenzeuge, "der war völlig zerquetscht". Unterdessen sei der Kollege aus dem Güterzug aufgeregt zwischen den Trümmern herumgelaufen. "Hoffentlich keine Toten, hoffentlich keine Toten", habe der Mann gerufen und mit dem Handy herumgefuchtelt, erinnert sich Sporleder. Dann habe ihn ein Polizist in seine Obhut genommen. Der 39-jährige Lokführer des Güterzuges, der aus dem Raum Hannover stammt, erlitt nur Prellungen, doch kam er mit einem Schock ins Krankenhaus. Dort wollte ihn die Polizei vernehmen, doch der Lokführer weigerte sich, Angaben zu machen, wie der zuständige Polizeiführer berichtete.

Der Güterzug war mit 35 Waggons in Richtung Peine und Salzgitter unterwegs, er war voll beladen mit Kalk für ein Stahlwerk. Der einige Hundert Meter lange Zug dürfte ein Gewicht von gut 2000 Tonnen mit sich geschleppt haben, um ihn zu ziehen, waren zwei Loks nötig. Nach der Kollision raste der Zug noch einige Hundert Meter weiter, wobei die vordere Lok abriss und noch einmal 120 Meter rollte. Mit seinem ungeheuren Gewicht muss der Güterzug den Personenzug wie ein Rammbock regelrecht aufgeschlitzt haben. Zur genauen Unglücksursache wollte sich die Polizei am Sonntag noch nicht äußeren: "Es laufen die Ermittlungen", erklärte Armin Friedrichs von der Polizei-Direktion Sachsen-Anhalt Nord lediglich.

Klar ist jedoch, dass der Güterzug, der aus Richtung Süden kam, vor dem Bahnhof Hordorf hätte zum Stehen kommen müssen, um eine Kollision zu vermeiden. Dort gibt es ein Ausweichgleis, auf dem der Zug jeweils zu warten hat, wenn eine entgegenkommende Bahn anrollt, denn die übrige Strecke ist eingleisig.

Die entscheidende Frage für die Ermittler ist nun, wie die Zugsignale standen, die jeweils in nördlicher und südlicher Richtung des Bahnhofs angebracht sind. Nach derzeitiger Erkenntnis der Polizei stand das Signal für den Personenzug auf Grün. Die Signale werden in Hordorf noch per Hand geschaltet, in einem kleinen Raum, der im Bahnhof liegt. Hier sieht es noch aus wie in der alten DDR: An einer grün gestrichenen Schalttafel aus den 60er Jahren sieht man weiße Emaille-Schilder mit den jeweiligen Richtungsangaben, es gibt Knöpfe, Schalter und lange schwarze Hebel - mit ihnen werden die Signale und Weichen umgelegt. Als Sporleder abends zum Bahnhof kam, hatte er auch den Fahrdienstleiter aus dem Stellwerk gesehen, "der hat nur so gezittert", weil er es wohl noch nicht habe fassen können, dass der Güterzug durchgefahren sei, erzählt der Lokführer. Und er meint auch noch zu wissen, wie das Signal an der südlichen Bahnhofseinfahrt gesetzt war: "Es stand auf Halt für den Güterzug," sagt Sporleder, "er muss es übersehen haben".

Auf den meisten Bahnstrecken sind heute in die Gleise spezielle Magneten eingebaut, die eine automatische Bremsung einleiten, wenn der Zugführer ein Signal übersieht. Auch auf der Strecke Magdeburg-Halberstadt gab es solche Vorrichtungen; ausgerechnet in Hordorf fehlt diese Automatikbremsung, sie sollte Ende des Jahres installiert werden. Dabei, sagt Sporleder, habe es hier bereits 2009 einen Beinahe-Unfall gegeben - mit genau den gleichen Zügen. Auch damals habe der Lokführer des Kalk-Güterzugs das Haltesignal übersehen, "doch der Fahrdienstleiter hat die Situation im letzten Moment gerettet, weil er den Güterzug zum Halten zwang". Derweil habe er den aus Oscherleben heranfahrenden Regionalzug rechtzeitig warnen können. Im Nebel des Samstagabends gab es dafür keine Chance.

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