Serie:Blendung mit der Maus

Serie: "Schneuzender Schniefling" heißt dieses fiktive Nasentier, das im Zoologischen Museum Straßburg ausgestellt ist.

"Schneuzender Schniefling" heißt dieses fiktive Nasentier, das im Zoologischen Museum Straßburg ausgestellt ist.

(Foto: Wikimedia commons /Musée_zoologique_de_Strasbourg-Rhinograde/CC BY-SA 3.0)

Der sagenhafte Zoologe Harald Stümpke war der Münchhausen seines Fachs: Er erfand eine ganz neue Säugetierspezies.

Von Sofia Glasl

Christian Morgenstern dürfte vielen als Dichter und Sprachkomiker bekannt sein, einigen auch als Übersetzer der Dramatiker August Strindberg und Henrik Ibsen. Dass er sich auch im Bereich der zoologischen Feldforschung betätigt haben soll, ist eher im Verborgenen geblieben.

Genau das behauptete aber der Zoologieprofessor Harald Stümpke in der 1961 vom Wissenschaftsverlag Gustav Fischer veröffentlichten Abhandlung "Bau und Leben der Rhinogradentia" über eine bis dato unbekannte Säugetierordnung. Darin führt er Morgensterns Gedicht "Das Nasobēm" aus den "Galgenliedern" von 1905 als Quelle und Beweis für die Existenz der Spezies an und wollte im Versmaß die "Eigenart der Bewegungsweise dieses Naslings" erkennen. Ob Morgenstern zwischen 1894 und 1896 selbst eine Südseereise gemacht habe, sei nicht belegbar, doch gehe er davon aus, dass der Schriftsteller mindestens im Besitz eines Nasobēm-Präparats gewesen sei.

Der Begriff des Nasobēms beschreibt in der Taxonomie eine Gattung unter der Ordnung der Rhinogradentia. Gemäß dem Ordnungsbegriff "Rhinogradentia" (rhis, rhinos, gr. = Nase, gradi, lat. = schreiten) heißen die Tiere im Deutschen "Nasenschreitlinge", im Englischen hat sich der Begriff "snouter" eingebürgert.

Stattliche 14 Familien und 189 Unterarten klassifiziert Stümpke und führt die Entdeckung des Tieres detailreich aus. Bereits 1941 soll der aus japanischer Kriegsgefangenschaft geflohene Schwede Einar Pettersson-Skämtkvist auf einer unbekannten Inselgruppe im Pazifik gestrandet sein, den Hi-Iay-Islands, von den Einheimischen "Hei ei ei" ausgesprochen. Dort habe er possierliche Tiere vorgefunden, die sich zum Erstaunen nicht auf Beinen, sondern auf ihren Nasen fortbewegten. Die Entdeckung eines Archipels und von Säugetieren mit bisher ungesehenem Lokomotionsapparat habe viele Forscher in die Südsee gelockt. Die Forschungseinrichtung des "Darwin-Instituts" habe sich dort zur Untersuchung der Nasentiere und des Biotops eingerichtet.

Die Rhinogradentia lassen sich in Monorrhina und Polyrrhina, also in Ein- und Mehrnasen, unterteilen. Die Vorderpfoten sind meist noch als Greiforgane erhalten, während die Hinterpfoten fast verschwunden sind. Der Schwanz hingegen nimmt eine besondere Stellung als Greifhilfe ein. Äußerlich ähneln die Naslinge Nagern wie Spitzmäusen, allerdings gibt es auch nackte wasserbewohnende Spezies und eine parasitäre Art. Die meisten fressen Insekten, die Wassertiere Plankton. Lediglich ein Räuber sei bekannt, der Tyrannonasus imperator, der auch der einzige Fressfeind aller anderen Tiere sei. Besonders schön anzuschauen seien die Nasenblümchen-Kolonien, da diese ihre blütenförmigen Rüssel, ähnlich wie fleischfressende Pflanzen, als Köder für Fliegen einsetzten und daher Blumenwiesen ähnelten. Das wollige Mammontops ursulus, auch Zottelnase genannt, ist als etwa ein Meter großes mammutartiges Tierchen beschrieben und die Orgeltatzelnase könne mit ihren 38 Rüsseln (!) mit ein wenig Dressur Orgelstücke von Bach nahezu fehlerfrei spielen.

Die absonderlichen Tiere legen es nahe: Stümpkes nach wissenschaftlichen Schreibkonventionen verfasstes Werk ist frei erfunden. Der Zoologiewelt war schnell klar, dass er sie an der Nase herumgeführt hatte.

Wissenschaftler mit Sinn für Humor

Stümpke entpuppte sich als Pseudonym des Darmstädter Professors Gerolf Steiner, der 1931 in Heidelberg über amerikanische Kakerlaken promoviert und in den Vierzigerjahren Abhandlungen über Fruchtfliegen veröffentlich hatte. Sein Talent für Zeichnungen hatte er für allerlei Schaubilder eingesetzt und Kollegen bei der Illustration ihrer Veröffentlichungen geholfen.

Bereits 1945 hatte er, angeregt von Morgensterns Gedicht, das erste Nasobēm gezeichnet und wurde von Kollegen ermutigt, weiterzumachen. Der Text über das Fabelwesen wurde zum heimlichen Star der Zoologengemeinde. Einige Kollegen bewiesen Humor, rezensierten das Werk ernsthaft und trieben die wissenschaftliche Parodie so noch weiter, bis der Spiegel die Geschichte 1962 aufgriff und enttarnte.

Steiner wird im Buch als Illustrator gewürdigt und hat unter Klarnamen das Nachwort verfasst - denn, so eine weitere Volte des Erzählkonstrukts, das Atoll sei nach einem Atomtest aus Versehen komplett versunken und mit ihm die zu einem Kongress versammelte Nasenwandler-Expertenrunde des Darwin-Instituts. Laut Spiegel soll eine Rezension in der "sowjetzonalen" Liberal-Demokratischen Zeitung das Werk für bare Münze genommen haben, und auch in einigen osteuropäischen Ländern scheinen nicht sattelfeste Kollegen ihm zunächst geglaubt zu haben. Verbrieft ist das nicht, zugeben würde ein Naturwissenschaftler wohl auch nicht freiwillig, dass er auf die blühende Fantasie eines Kollegen hereingefallen ist.

Dass Wissenschaftler Sinn für Humor haben, zeigt die Tatsache, dass sich der Insiderwitz verselbständigte und heute noch weitererzählt wird. Einige englischsprachige Zoologie-Atlanten führen Stümpkes Abhandlung in der Literaturliste, auch wenn die Rhinogradentia keinen Lexikoneintrag erhalten haben. In der Taxonomie der Fabelwesen sind sie eingereiht zwischen Wolpertingern, Lindwürmern und Steinläusen. Stümpke wurde 2015, posthum und ex post wissenschaftlich entschädigt: Auf Sulawesi wurde eine neu entdeckte Spitzmausart mit Igelnase nach ihm benannt. Die Hyorhinomys stuempkei weist zumindest optische Ähnlichkeiten zum Hopsorrhinus aureus auf, dem zu den auf einem muskulösen Rüssel springenden Nasenschreitern zählenden Goldhopf.

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